Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)
Seite gestanden – er hatte die Gussform hergestellt, mit deren Hilfe die Verteidiger des Palazzo Reale aus Bleirohren Gewehrkugeln formten. Wir haben Rudinì zuletzt am Rande des politischen Todes stehen sehen, als er dem parlamentarischen Untersuchungsausschuss im Jahre 1876 verzweifelt seine verblüffende Theorie über die »gutartige Maffia« darlegte. In den 1890 er Jahren war Rudinìs gepflegter blonder Bart zottig und grau geworden und an den Enden gegabelt. Die finanziellen und politischen Krisen der damaligen Zeit hatten Italien einen Rechtsruck verpasst und dabei dem Marchese zu neuem Aufschwung verholfen.
Leopoldo Notarbartolo machte sich wenig Illusionen über Rudinì: »Ein Schleimer« war das Substantiv, das er benutzte, um ihn zu beschreiben. In Wahrheit war Rudinì mittlerweile so mächtig geworden, dass er an seiner statt andere durch den Schleim waten lassen konnte. Sein Wahlkreismanager war damals ein gewisser Leonardo Avellone, der örtliche Bürgermeister. 1892 brachte eine sizilianische Zeitung ein unvergessliches Porträt Avellones:
»
Commendatore
Avellone ist ein wohlhabender Mann, der auf die sechzig zugeht. Er ist rundlich, freundlich, besitzt die Gerissenheit eines Bauern und das höfliche, hilfsbereite Wesen eines Jesuiten. Doch er ist auch rachsüchtig und betrügerisch gegen jeden, vor allem gegen seine Freunde. Er ist ungebildet, aber schlagfertig und ebenso geschickt darin, Gutes zu tun wie Schaden anzurichten. Er zählt sowohl Tugendhafte wie auch Schurken zu seinen Freunden, ohne jede Unterscheidung. Er ist eine Vaterfigur, nicht nur für seine zahlreichen Kinder, sondern auch für seine Verwandten und Anhänger, die in seinem Schatten die Gegend um Termini tyrannisieren. Er tritt stets in der Pose des ordnungsliebenden, streng konservativen Mannes auf, als ein klassischer Vertreter der Rechten. Gelegentlich hat er der Polizei schon ausgezeichneten Beistand geleistet. Doch dann wieder hatte er keinerlei Skrupel, irgendwelchen Kriminellen zu helfen oder die Freiheit zu schenken, die entweder eine Anstellung bei ihm erhalten oder sich unter seine Fittiche begeben haben.«
Kurz, Avellone war der typische Mafiaboss; er nahm sich gern der Angelegenheiten vor Ort an – der legalen wie der kriminellen –, während sein Sponsor Rudinì sich mit den großen Staatsaffären in Rom befasste. Avellone wusste Rudinìs Rückkehr an die vorderste Front der italienischen Politik aufs Beste zu nutzen. Er gewann einen entscheidenden Einfluss über alles, was in seinem kleinen Reich vor sich ging: Er vergab Lizenzen für den Verkauf von Lotteriescheinen und Tabakwaren, vermittelte Regierungsposten und Ämter im öffentlichen Dienst; sogar die Strategien der Polizei soll er kontrolliert haben. Kurz, er war das, was Rudinì 1876 unter einem »gutartigen
maffioso
« verstanden hatte. Es gab viele solcher gutartigen
maffiosi
im Westen Siziliens – und Don Raffaele Palizzolo war der einflussreichste von allen.
Was Leopoldo Notarbartolo letztlich dazu bewog, mit Rudinì zu sprechen, war die Tatsache, dass der neue Premierminister ein eingeschworener politischer Feind des früheren Premierministers Francesco Crispi war. Also verschaffte sich Notarbartolo mit Hilfe seines Familiennamens Zugang zu Rudinìs Amtszimmer und erläuterte ihm die Hauptpunkte seiner Klage gegen Raffaele Palizzolo. Konnte Rudinì ihm zu seinem Recht verhelfen?
Rudinìs Antwort war kurz, heiter und niederschmetternd: Notarbartolo solle einen »guten Mafioso« finden und ihn gut bezahlen, damit er sich Palizzolos annehme.
Der Premierminister wandte sich später übrigens an Don Raffaele, als es nötig wurde, die Anhänger Crispis in Palermo aus ihren Ämtern zu drängen.
Erst 1898 , über fünf Jahre nach dem Tod seines Vaters, fand Leopoldo endlich die politische Unterstützung, die er brauchte. Rudinì musste bald nach den Ereignissen im Mai jenes Jahres aus dem Amt scheiden, als Soldaten in Mailand Kanonenschüsse in die Menge abfeuerten. Sein Nachfolger war ein Offizier, General Luigi Pelloux. Pelloux hatte keinerlei politisches Interesse an Sizilien und war zudem ein Freund der Familie Notarbartolo. Über General Pelloux erhielt Leopoldo Notarbartolo Zugang zu den Akten, die er benötigte: interne Informationen über die Bank von Sizilien, das Polizeipräsidium in Palermo und sogar das Innenministerium. Endlich konnte sich der Sohn des ermordeten Bankiers auf sein Erscheinen vor Gericht freuen.
Schon Wochen nach seinem
Weitere Kostenlose Bücher