Ondragon - Menschenhunger
Fall behielt der Doc nach außen hin ein seriöses Image, getarnt als Nervenarzt für Reiche. Ein genialer Schachzug, denn das bedeutete, dass er nebenbei ganz unauffällig Patienten bekam, die er in situ , sozusagen einen Kannibalen in freier Wildbahn, studieren konnte. Das war ein ungemeiner Vorteil, denn Kannibalen landeten in der Regel erst nach ihrer Straftat und Verhaftung auf der Couch. Und besonders gesprächig gebärdeten diese sich unter den erdrückenden Bedingungen von Haft und öffentlicher Aufmerksamkeit auch nicht. Es war also ein wünschenswerter Zustand, dass Kannibalen aus aller Welt freiwillig zu Dr. Arthur kamen und aus ihrem Leben plauderten, bevor sie durch ein Gerichtsurteil stigmatisiert würden. Und davon gab es immerhin an die siebzig Namen in der Liste. Siebzig Kannibalen, die frei herumliefen! Ein verstörender Gedanke, aber offenbar auch ein wahrhaft fruchtbares Feld der Forschung. Nicht, dass Dr. Arthur deswegen ein schlechterer Psychotherapeut auf den anderen Gebieten gewesen wäre. Im Gegenteil, er hatte alles in allem eine brillante Heilungsquote.
Ondragon nahm einen Schluck Kaffee und schnalzte mit der Zunge. Was die Polizei und die Presse wohl dazu sagen würden, wenn sie erführen, dass hier in der CC Lodge potentielle und auch tatsächliche Verbrecher untergebracht waren? Delikat. Kein Wunder, dass sämtliche Unterlagen zu den K-Patienten so gut gesichert waren.
Ondragon blätterte zu zwei weiteren Namen: Harvey Lyme und Oliver Orchid. Endlich kam etwas mehr Licht in das Geheimnis um den Patienten in Zimmer Nr. 20. In der sehr umfangreichen Akte war vermerkt, dass Orchid bei seiner Tätigkeit für Ärzte ohne Grenzen in einem abgelegenen Dorf im Gebiet der Rebellen von Darfur, Westsudan, an einen Kannibalenkult geraten war. Dem hatte er zuerst aus reiner Neugier beigewohnt, war ihm aber schließlich nach und nach verfallen. Man hatte ihn anfänglich vor dem Dorf gewarnt. Frauen und Männer verschwänden dort immer wieder. Doch die Wissbegier Orchids war größer als seine Angst, und so war er zu dem Dorf gereist. Die Einwohner hatten zunächst zurückhaltend reagiert, den Ausländer aber dann bereitwillig in ihren Kult eingeführt, der seine Feinde opferte und sie aufaß, um ihre Stärke zu gewinnen. Orchid hatte Dr. Arthur erzählt, dass er von diesem archaischen Brauch fasziniert war und begonnen hatte, ein Buch darüber zu schreiben. Doch dann sei die Situation außer Kontrolle geraten, und er hätte sich eines Tages in einem Blutrausch wiedergefunden, die Machete in der Hand und die Leber seines Opfers zwischen seinen Zähnen. Orchid konnte nicht erklären, wie es dazu gekommen war, aber er war erschrocken über seine Verwandlung und aus dem Dorf geflohen, von dem er später nicht mehr sagen konnte, wo es genau lag. Zurück bei den Ärzten ohne Grenzen war er schon nach wenigen Wochen außerstande, seine Arbeit fortzuführen. Der Fluch des Dorfes ließ ihn nicht mehr los, und das Verlangen, zu töten und Menschenfleisch zu essen, war übermächtig geworden. Seine Hände zitterten, wenn er einen Patienten berührte. Er hatte sich kaum noch unter Kontrolle. Er kündigte seinen Job und reiste auf dem schnellsten Wege nach Kanada zurück. Er hoffte, dass der afrikanische Alptraum in der kühlen Umgebung seiner Heimat abklingen würde. Doch das war ein Trugschluss. Immer wieder ertappte sich Orchid dabei, die Menschen in seiner Umgebung zu betrachten und sich zu fragen, wie diese schmecken und was für Stärken sie ihm wohl schenken mochten. Und dann, eines Tages, sei es eskaliert …
Zu Ondragons Bedauern brach an dieser Stelle der Bericht über Oliver Orchid ab, der Rest der Akte war leer. Es schien, als unterläge alles Weitere einer noch höheren Geheimhaltungsstufe. Das war seltsam, denn die K-Akten waren doch schon top secret . Gab es etwa noch mehr, noch geheimere Daten? Die Frage war nur, wo? In Dr. Arthurs Aktenschrank? Vielleicht waren die noch nicht digitalisiert worden und schlummerten in Papierform seelenruhig im Büro des Seelenklempners. Ondragon überlegte. Das Büro war mit Sicherheit besser abgesichert als Sheilas Office. Und eigentlich gab es Wichtigeres, als dort einzubrechen, schließlich wusste er jetzt, dass Oliver Orchid ein K-Patient war und immerhin den Weg zu Dr. Arthur gefunden hatte.
Ondragon blätterte in seinem Notizblock und richtete sein Augenmerk auf den letzten, ihm bekannten Fall: Harvey Lyme. Der Immobilienmakler war von noch speziellerer
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