Ondragon - Menschenhunger
nicht wirklich.“
„Also gut.“ Pollux zückte einen Fragebogen und begann mit seiner Anamnese für die kommende Therapie. Ondragon hörte mit den Händen im Schoß zu und beantwortete geduldig jede Frage. Die Praktik der Familien-Aufstellung war ihm von Anfang an suspekt gewesen, denn die Methode hörte sich doch sehr nach Hokuspokus an. Die Chance, bei einer Wahrsagerin und ihrer Glaskugel ein glaubwürdiges Ergebnis zu bekommen, erschien ihm wesentlich wahrscheinlicher als das hier. Aber trotz seiner Skepsis hörte er dem Schweizer Arzt zu.
„Sind Sie bereit, Paul?“, fragte Pollux am Ende des Gesprächs.
Ondragon nickte, und Pollux erhob sich mit zufriedener Miene. „Dann bitte ich jetzt die Stellvertreter rein, oder? Keine Angst, es sind alles Angestellte der Lodge. Keiner von ihnen weiß etwas von Ihrem Problem, und nichts, was hier drinnen gesprochen wird, wird diesen Raum verlassen.“ Er wies auf die beiden weißlackierten Türen; die eine führte in den Flur und die andere wahrscheinlich in einen Nebenraum. Genau diese war es auch, die sich nun öffnete, und fünf Frauen und fünf Männer in den Raum einließ. Sie setzten sich auf eine Reihe Neurotiker-Stühle an der Wand gegenüber dem Schreibtisch, ohne ihn anzublicken. Es wirkte wie eine Gegenüberstellung bei der Polizei. Ondragon erkannte ein paar Gesichter, aber zu seiner Erleichterung war ihm keiner von den Angestellten näher bekannt.
„So, wir beginnen jetzt. Paul, bitte wählen Sie sich einen Stellvertreter für Ihren Vater aus, sagen Sie ihm, wie er heißt und wie alt er ist und führen Sie ihn an einen Punkt in diesem Raum, von dem Sie denken, dass er zu Ihrem Vater passt.“
Ondragon war sich zwar noch immer nicht sicher, ob es sinnvoll war, sich auf das hier einzulassen, ging aber auf einen der Männer zu, nahm ihn bei der Hand und stellte ihn gleich vor den Schreibtisch. Ja, das passte zu seinem Vater - immer beschäftigt. Dann wiederholte er das Ganze mit seiner Mutter und postierte sie mit dem Rücken zu seinem Vater mit Blick auf die Gruppe.
„Gut, und nun wählen Sie noch einen Stellvertreter für sich selbst, Paul.“ Dr. Pollux stand entspannt da und beobachtete seinen Patienten, der einen jungen Mann in Krankenpfleger-Kleidung auserkor und ihn neben seine Mutter stellte. Aber mit einem Abstand von einer Armeslänge dazwischen.
Als er fertig war, schob Dr. Pollux Ondragon sanft an den Rand. Er klatschte einmal in die Hände und sagte „Bitte“. Was danach geschah, konnte Ondragon im Nachhinein nur als eine Art Puppenspiel mit lebendigen Menschen beschreiben, bei dem eine unsichtbare Macht die Figuren bewegte. Dr. Pollux war dabei nicht mehr als ein Moderator, der die Stellvertreter geleitete. Er verschob Ondragons Vater neben die Mutter, die daraufhin betroffen zu Boden blickte. Auch der Vater schaute zu Boden auf die gleiche Stelle.
Unheimliche Stille herrschte in dem Raum, während Dr. Pollux Ondragons Stellvertreter auf den Boden vor die Eltern legte. Scheinbar ungerührt hoben sie ihren Blick. Pollux nickte. Ondragon verstand gar nichts.
Dann ließ Pollux den Stellvertreter Ondragons wieder aufstehen und sich neben Vater und Mutter stellen. Alle drei schauten nun in Richtung der Gruppe der restlichen Teilnehmer. Pollux nickte erneut. Er ging zu Ondragon und fragte leise: „Ich habe Sie das schon vorhin gefragt, und Sie haben es verneint. Aber schauen Sie, es sieht ganz danach aus, als ob es in Ihrer Familie doch einen ungewöhnlichen Todesfall gegeben hat.“
Ondragon starrte den Arzt an. Es hatte ganz sicher keinen solchen Todesfall gegeben. „Ich habe wirklich keine Ahnung, wovon Sie reden. Tut mir leid.“
„Verstehe. Dann versuchen wir es mit etwas anderem.“ Pollux ging zu der Gruppe und wählte einen weiteren Mann aus, der sich vor den anderen drei Stellvertretern auf die Erde legen musste. Augenblicklich ging ein Ruck durch Vater und Mutter, sie bewegten sich, gingen zu dem Liegenden und hoben wie im Gebet die gefalteten Hände vor den Mund. Der Sohn stand weiterhin wie erstarrt, seine Hände tief in die Hosentaschen.
Skeptisch sah Ondragon zu. War das seriöse Psychotherapie?
Pollux ging zu Ondragons Stellvertreter und führte ihn neben seine Eltern. Alle drei blickten nun auf den Liegenden hinab und nach einer Weile atmeten sie plötzlich erleichtert auf. Es war ein schwaches Geräusch, man konnte es mehr fühlen als hören, aber dennoch schwebte es mit deutlicher Präsenz im Raum. Pollux legte
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