Ondragon - Menschenhunger
Lake, Cedar Creek Lodge
Bevor Ondragon zu Dr. Pollux ging, machte er sich einem Plan für den Tag. Jetzt, da er die geheimen K-Akten kannte, ergaben sich völlig neue Gesichtspunkte, und die musste er sorgfältig gegeneinander abwägen. Er wandte sich von dem großen Spiegel neben seinem Bett ab, mit dessen Hilfe er sich ein Bild von seiner Stirnverletzung gemacht hatte. Sie sah wirklich nicht gut aus und hatte auch noch begonnen, dumpf zu pochen. Sheila würde wohl doch Hand anlegen müssen. Mit säuerlicher Miene ging er durch das Zimmer und dachte nach. Deputy Hase würde er erst informieren können, wenn ein Irrtum seinerseits vollkommen ausgeschlossen war. Auf keinen Fall wollte er sich bei dem Jungsheriff durch übereilte Panikmache lächerlich machen. Das hieß aber auch, dass er auf weitere Informationen von Charlize warten musste. Und die würde er nicht vor heute Nachmittag bekommen. Er sah auf die Uhr. Zehn vor elf. Er musste sich auf den Weg machen. Nach dem Termin bei Pollux würde er sich darum kümmern, herauszufinden, wer ihm dieses nette Indianer-Souvenir auf das Kopfkissen gelegt und den Brief verfasst hatte. Natürlich ging er vorerst davon aus, dass es sich dabei um ein und dieselbe Person handelte. Grübelnd verließ er sein Zimmer und schloss die Tür ab, wobei sein Berliner Talisman leise klingelte.
Während er die Stufen ins obere Stockwerk hinaufstieg, kam Ondragon eine Frage in den Sinn. Wusste Pollux von Dr. Arthurs K-Patienten? Wenn ja, dann deckte er ebenso die Verbrechen wie der Doc. Er nahm sich vor, dem Arzt aus der Schweiz auf den Zahn zu fühlen.
Pünktlich wie immer betrat er dessen Behandlungszimmer, das er am Tag zuvor schon in Augenschein hatte nehmen können. Es unterschied sich von dem Büro Dr. Arthurs in einem wesentlichen Punkt. Dr. Pollux schien den für ihn landestypischen Wert auf geleckte Sauberkeit zu legen. Oder, um es mit anderen Worten zu sagen: Sein Zimmer war vom Boden bis zur Decke phobikerfreundlich eingerichtet. Kühle, glatte Oberflächen aus Edelstahl und Plastik, wohin man schaute; mikroskopisch staubfreie und hochfunktionale Möbel in weiß und grau, ohne jeglichen Hauch von Gemütlichkeit. Selbst die rustikalen Baumstammwände, die überall das Innere der Lodge prägten, waren hier mit Rigipsplatten und Tapete verkleidet. Kein Bild hing an der Wand, kein persönlicher Gegenstand war zu sehen. Ondragon kam sich vor, als beträte er ein keimfreies Labor, fehlte nur noch, dass ihn Dr. Pollux in einem gelben Schutzanzug á la Outbreak erwartete. Er setzte sich auf einen der Stühle vor dem Glasschreibtisch. Der Stuhl war dasselbe Neurotiker-Modell wie bei Dr. Arthur, nur, dass Ondragon sich in dessen Büro deutlich wohler gefühlt hatte.
„Wie geht es Ihnen, Paul?“, fragte Pollux mit einem leichten Schweizer Akzent. Auch er hatte auf eine vertrauliche Atmosphäre bestanden und redete ihn mit Vornamen an.
„Gut, soweit.“ Ondragon zuckte mit den Schultern. „Außer, dass mich das Gerede um den Kannibalen-Mörder, der hier im Wald herumläuft, etwas beunruhigt.“
„Kannibalen-Mörder? Wer sagt das denn? Ich dachte, es sei ein Bär gewesen.“ Dr. Pollux runzelte die glatte, hohe Stirn, die umkränzt wurde von kurzem, dunkelbraunem Haar. Ondragon betrachtete den Mann genau. Leichte Geheimratsecken verstärkten den Eindruck, der Kopf des Schweizers bestünde nur aus Stirn und sehr viel Denkmasse dahinter. Brainbug! Das war aber auch schon das Bemerkenswerteste an Pollux. Ansonsten war er der reinste Durchschnitt und so nichtsagend wie seine Möbel.
„Das wird hier so getuschelt“, antwortete Ondragon schließlich. „Ich weiß auch nicht, wer das mit dem Kannibalen behauptet hat, aber sicher ist doch, dass da ein Toter im Wald lag.“
Pollux lächelte beschwichtigend. „Und da lag er wohl auch schon länger. Ganze vier Monate, habe ich gehört. Seien Sie unbesorgt, die Polizei wird schon herausfinden, was passiert ist.“ Er verschränkte die Hände auf dem Tisch. Ondragon war enttäuscht, Pollux hatte keinerlei Regung bei der Nennung des Wortes Kannibale gezeigt. Entweder war er ein guter Schauspieler, oder er wusste tatsächlich nichts von Dr. Arthurs ungewöhnlichen Schützlingen.
„Wir wollen uns jetzt auf Ihre Familien-Aufstellung vorbereiten, Paul“, fuhr Pollux fort, „dafür sollten Sie für einen Moment vergessen können, was hier im Haus so an Schauermärchen herumgeistert. Oder glauben Sie an einen Kannibalen-Mord?“
„Nein,
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