Ondragon - Menschenhunger
wollen. Er ließ das Telefon am anderen Ende klingeln. Hoffentlich würde seine Mutter abheben. Ein Klopfen an der Tür riss ihn jäh aus seinen Gedanken. Schnell schaltete er sein Handy aus und versteckte es. Schwankend erhob er sich und öffnete die Tür.
„Hallo, Paul, es … was ist denn mit Ihnen passiert!“ Kateri stand mit weit geöffneten Augen vor ihm. War sie echt? Wie in Trance hob Ondragon eine Hand und strich ihr sanft über die Wange. Ihr Gesichtsausdruck wurde noch verwirrter. Natürlich war sie echt. Er ließ die Hand wieder sinken und schenkte ihr ein gequältes Lächeln. „Ich glaube, ich bin geheilt“, lallte er und ärgerte sich sogleich über diese blöde Antwort. Er musste wirken, als hätte man ihm mit Stromstößen das Gehirn gegrillt. Er schürzte die Lippen. Eigentlich kein schlechter Vergleich, denn genauso fühlte er sich. „Was ist denn los?“, fragte er schließlich etwas aufgeräumter und fügte augenzwinkernd hinzu: „Es ist doch noch gar nicht vier Uhr nachmittags.“ Wenigstens der Flirt-Modus funktionierte noch.
„Also … ist wirklich alles okay?“ Kateri stemmte eine Hand in die Hüfte. „Sind Sie betrunken?“
„Ja doch. Äh, nein, natürlich nicht. Woher sollte ich den Stoff denn haben?“ Ondragon schüttelte den Kopf, und der letzte Schwindel verflog. Er grinste. Endlich war er wieder Herr seiner Sinne. „Und wenn, dann hätte ich Sie an dem Spaß beteiligt.“
Kateri ging nicht auf seinen Scherz ein. Sie war ungewöhnlich ernst. „Sie sind der einzige, den wir noch nicht gefragt haben. Ist Ihnen Mr. Lyme heute schon begegnet?“
„Nein.“ Was für eine komische Frage.
„Er ist nämlich weder beim Frühstück, noch beim Mittagessen aufgetaucht.“
„Vielleicht hat er auf seinem Zimmer gegessen.“
„Unmöglich, sein Zimmer ist leer, und die Küche hat keine Anweisung bekommen, etwas zu ihm hinaufzubringen. Außerdem hat er den Termin bei Dr. Zeo nicht wahrgenommen. Niemand hat ihn gesehen, er ist wie vom Erdboden verschluckt.“
Ondragon kratzte sich am zerzausten Scheitel. Warum machte sie sich solche Sorgen um diesen Typen? „Na, irgendwo wird er schon sein. Oder er ist abgereist, so wie dieser Oliver Orchid damals. Hatte die Schnauze voll. Geht mir übrigens genauso! Hab nicht übel Lust, meinen Autoschlüssel zu holen und noch heute abzuhauen!“ In der Tat wäre eine beschwingte Autofahrt jetzt genau das Richtige, um sich den Kopf durchblasen zu lassen. „Meinen Sie, Sheila würde mir den Schlüssel geben?“
Kateri zog gereizt die Augenbrauen zusammen. Sie schien mit ihren Gedanken ganz woanders zu sein. „Ich glaube kaum“, entgegnete sie brüsk. „Wir müssen Lyme suchen! Kommen Sie!“ Sie fasste ihn am Arm und wollte ihn mit sich ziehen.
„Ho, ho, warten Sie, Kateri!“ Ondragon stemmte sich gegen ihr Vorhaben. Ihm war ganz und gar nicht danach, das Zimmer zu verlassen und in seinem derangierten Zustand womöglich dieser Hyäne Shamgood in die Arme zu laufen. Darauf konnte er getrost verzichten. „Warum so eilig? Lyme ist erwachsen und kann gehen, wohin er will“, warf er ein. „Vielleicht macht er nur einen Spaziergang draußen im Wald und erfreut sich des Lebens. Er …“ Plötzlich dämmerte es ihm. Mit wachsendem Unbehagen dachte er an das merkwürdige Gespräch, das er vor zwei Tagen mit dem Makler geführt hatte. Ondragon wurde mulmig zumute. Er zögerte, denn er hatte eine gewisse Ahnung, warum Lyme verschwunden war, doch wenn er es Kateri erzählte, so offenbarte er gleichzeitig auch, dass er von den K-Patienten wusste. Und er war sich immer noch nicht sicher, ob er ihr wirklich vertrauen konnte. Immerhin war sie sehr eng mit Dr. Arthur befreundet und sie könnte sofort zu ihm gehen und ihm berichten. Was dann geschehen würde, war bestimmt nicht angenehm. Bestenfalls könnte er aus der Lodge fliegen. Er musste seine Herumschnüffelei für sich behalten, auch wenn es ihn reizte, Kateri einzuweihen. Er dachte an den Drohbrief und bemerkte, dass sein Gegenüber langsam ungeduldig wurde.
„Vielleicht haben Sie Recht. Wir sollten Lyme suchen. Wenn er in den Wald hinausgegangen ist, schwebt er womöglich in Lebensgefahr, immerhin ist dieser Killer-Bär da unterwegs. Warten Sie einen Moment, ich ziehe mir eben etwas anderes an und dann gehen wir zu Dr. Arthur und erzählen ihm, was wir vorhaben.“ Für Ondragon war es klar, Lyme war in den Wald gegangen, um seinen heiß ersehnten Wunsch wahr zu machen. Er wollte der
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