Ondragon - Menschenhunger
wollte Parker aufhelfen, doch Stafford hielt ihn davon ab.
„Ihr könnt nicht gehen, erst muss ich diese … diese Sache untersuchen!“
„Ach was, Sie und Ihre Untersuchungen. Wann begreifen Sie endlich, dass man nicht immer alles untersuchen und erforschen kann?“ Lacroix versuchte ruhig zu bleiben. Sie hatten nichts getan und waren schon viel zu lange im Fort eingesperrt. Keinen Tag länger würden sie sich hier festhalten lassen. Sie waren Männer, die die Freiheit liebten. Die Freiheit der unergründlichen Weiten des Waldes.
„Aber, Monsieur …“ Der Lieutenant wollte nach Lacroix‘ Arm greifen, doch da trat Two-Elk von hinten an ihn heran. Er sprach ganz leise, dennoch zuckte Stafford zusammen, als würde jemand in sein Ohr schreien.
„Wenn Bleichgesicht zu laut schreit, kommt der Geist des Waldes wieder. Kitchie Manitou ist stark, er hat den Wendigo besiegt. Er ist ein mächtiger Geist. Aber Weißer Mann muss schweigen, sonst ruft er den Wendigo zurück. Oder will auch er das kalte Schicksal des ewigen Hungers erleiden? Dieses Land ist grausam, und der Wendigo immer wach! Du kannst ihn rufen, wenn du willst.“
„Nein, schon gut.“ Stafford nahm Abstand von dem Chippewa. „Da ist die Tür, Ihr könnt gehen. Ich habe alles, was ich wissen wollte.“
„ Merci “, sagte Lacroix grinsend und half Parker auf die Beine.
Schnell packten sie ihre Sachen und verließen den kleinen Raum. Es war mitten in der Nacht und nachdem sie ihre Pferde gesattelt hatten, befahl Lieutenant Stafford den Wachsoldaten am Tor des Forts, die drei Männer passieren zu lassen. Wahrscheinlich würde er sich dafür vor dem Colonel und dem Gouverneur verantworten müssen, aber das war Lacroix herzlich egal. Erfreut atmete der die kühle Luft ein, als sie langsam in die Freiheit des nächtlichen Waldes hinausritten.
35. Kapitel
2009, Moose Lake, Cedar Creek Lodge
Das konnte alles nicht wahr sein! Mit geschlossenen Augen lag Ondragon auf seinem Bett und krampfte seine Hände in das Kissen, das er auf seinem Bauch festhielt. Ihm war noch immer schwindelig. Alles um ihn herum drehte sich, als säße er auf einem Karussell, das außer Kontrolle geraten war. Und es war besser, erst einmal keinen Blick auf diese Welt zu werfen, von der er nicht mehr wusste, was von ihr echt und was Trugbild war.
Scheiße! Er war kurz davor, wirklich verrückt zu werden! Sein Gehirn spielte ihm einen Streich nach dem anderen und suggerierte ihm Erinnerungen aus seiner Kindheit, in denen er Schulter an Schulter mit Per in der Bibliothek seines Vaters stand, seinem Zwillingsbruder, der sein Abbild war. Per, der aus dem Spiegel zu ihm sprach. Er hörte dessen Stimme, sein Lachen, hoch und dünn. Das Lachen eines Geistes.
Stöhnend fasste Ondragon sich an die heiße Stirn und schrak zurück, weil ein stechender Schmerz ihn durchfuhr. Die Wunde pochte fröhlich vor sich hin, als sei sie ein kleines Schlagzeug. Frustriert schlug er mit der Faust aufs Bett. Verdammt! Das war das reinste Gefühlschaos. Hätte er bloß nicht die Idee gehabt, hierher zu fahren. Was für ein innerer Höllenhund hatte ihn da nur geritten?
Vorsichtig öffnete er die Augen. Die Wände im Zimmer schwankten, kamen näher und wichen wieder zurück, tanzten einen Reigen, als wären sie nicht aus Holz, sondern aus Papier, das vom Wind hin und her geblasen wurde. Er kam sich vor wie in einem Film von David Lynch. Ein schöner Trip! Ondragon stützte sich auf seine Ellenbogen. Nur, dass er leider keine Drogen eingeschmissen hatte.
Er dachte an das zurück, was bei der Sitzung von Dr. Pollux geschehen war. Undeutlich sah er den Arzt vor sich, wie er die Menschen, die seine Familie darstellten, im Raum verschob, und erlebte erneut jene unbehaglichen Gefühle, die er dabei empfunden hatte. Es war unerklärlich, wie Dr. Pollux das angestellt hatte, aber seine Angst vor Büchern, der Hass auf seinen Vater und die Trauer seiner Mutter erschienen ihm mit einem Mal absolut plausibel. Tief in seinem Innern wusste er jetzt, was damals in der Bibliothek geschehen war. Er fühlte sich nur noch nicht bereit, sich vollständig daran zu erinnern. Er hatte dem Gedächtnispolizisten den Schlüssel entrungen, wagte es nur noch nicht, ihn in das Schloss zu stecken.
Vielleicht sollte ich meine Eltern anrufen? Ondragon angelte sein Handy aus der Schublade im Nachttisch. Das Display zeigte nichts an. Im Telefonbuch suchte er nach jener Berliner Nummer, die er tags zuvor schon einmal hatte anrufen
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