Ondragon - Menschenhunger
Panoramafenster seines Zimmers auf und ließ die Mine seines Kugelschreibers klicken. Es war 7.20 Uhr morgens. Draußen war beinahe überirdisch schönes Wetter. Die Sonne schmolz den Nebel auf dem See dahin und ließ die Tautropfen an den Ästen der Bäume glitzern.
Klick.
Noch zehn Minuten bis zum Frühstück. Ondragon sah wieder auf den Notizblock.
Klick.
Die Zentrifuge lief bereits auf Hochtouren. Was er bisher im Vorfeld seiner Reise über seinen Aufenthaltsort zusammengetragen hatte, war noch nicht genug.
Die Cedar Creek Lodge inmitten der einsamen Wälder im Norden Minnesotas, nur eine Autostunde von der kanadischen Grenze entfernt, war zwar ein hochmodernes Therapiezentrum, bot ihren Gästen aber zusätzlich sowohl den Komfort eines Luxushotels als auch die zuverlässige medizinische Betreuung eines privaten Krankenhauses. Von den anderen Top-Adressen unterschied sie sich allerdings dadurch, dass sie keine Suchtpatienten aufnahm. Um die „Bagatellfälle“ sollten sich offensichtlich andere Einrichtungen kümmern. Ondragon war dies nur recht. Die normalen Verrückten reichten ihm schon, da brauchte er nicht noch Alkis und Drogis um sich herum.
Auf der großzügigen Anlage der Cedar Creek Lodge konnten bis zu zwanzig Patienten in geschmackvoll eingerichteten Zimmern untergebracht werden, wobei natürlich auch Sonderwünsche berücksichtig wurden. Ein Sternekoch sorgte für das kulinarische Wohl und ein echter Chefkellner für das Ambiente eines Edelrestaurants. Es ging doch nichts über gutes Essen. Im Erdgeschoss des Westflügels fand der anspruchsvolle Gast eine Lounge, einen Spabereich mit Yacuzzi, Sauna und Fitnessraum, und im Ostflügel das Restaurant mit der Küche vor. Neben dem medizinischen Programm konnten die Gäste in der idyllischen Natur wandern gehen, picknicken, mit dem Kanu fahren, angeln, bogenschießen oder Tennis spielen und auf den wunderbar weichen Waldpfaden joggen, es gab sogar Bearwatching und einen geführten Pferdetreck; die Lodge besaß fünf Pferde mit dazugehörigem Reitlehrer. Der Aufenthalt sollte in jeder Hinsicht so angenehm wie möglich gestaltet werden und in guter Erinnerung bleiben.
Das wollen wir doch mal sehen, dachte Ondragon, zumindest wird es hier an Ruhe nicht mangeln.
Klick. Die Kugelschreibermine verschwand im Stift.
Leiter dieser Klinik war Dr. Arthur, jenseits der Fünfzig, gebürtiger Brite und anerkannter Spezialist für sämtliche Erscheinungsformen von Phobien und Angstzuständen. Darüber hinaus betrieb er als eine Art Hobby umfassende Forschungen zum Kannibalismus.
Klick.
Strange.
Die Idee für eine Spezialklinik draußen in unberührter Natur weitab von jeglichen störenden Zivilisationseinflüssen hatte Dr. Arthur schon während seines Studiums am University College in London. Nach seinen zwei Dissertationen in Psychologie und Medizin, die er in Rekordzeit mit summa cum laude abschloss, bekam er aufgrund seiner hervorragenden Leistungen eine Postdoc-Stelle an der Mayo Medical School in Rochester, Minnesota, eine der renommiertesten medizinischen Forschungseinrichtungen in den USA. Dort begann er als jüngstes Nachwuchstalent in Sachen Psychologie seine detaillierten Arbeiten an Patienten mit sozialen Phobien, für die er 1995 mit dem Award for Research von der American Psychiatric Association ausgezeichnet wurde.
Klick.
Eine steile Kariere. Der Mann hatte entweder kein Privatleben oder war ein Intelligenzmonster. Auf jeden Fall fand Dr. Arthur geneigte Investoren, die sein Klinik-Projekt unterstützten. Als geeignetes Grundstück entdeckte er schließlich den Moose Lake im Kabetogama State Forest, und siehe da, nachdem die Cedar Creek Lodge im Sommer 2000 in Betrieb genommen wurde, hatte sie bereits zwei Jahre später ihre Baukosten wieder eingebracht, was die privaten Investoren natürlich mehr als zufriedenstellte. In Windeseile hatte sich die CC Lodge, wie sie in Szenekreisen genannt wurde, zu einem wahren Magneten für Stars und Sternchen aus Politik, Wirtschaft und dem Filmbusiness entwickelt. Ein Hotspot für psychosengeplagte Millionäre.
Klick.
Die Therapie in der CC Lodge war nicht billig, aber der Erfolg gab Dr. Arthurs ungewöhnlichem Konzept recht, denn die Rückfallquote der Patienten, die sich in der abgelegenen Klinik behandeln ließen, war wesentlich niedriger als bei vergleichbaren Einrichtungen. Die Lodge war rund ums Jahr ausgebucht, die Warteliste lang, und Dr. Arthur kam nur selten dazu, seine Klinik zu
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