Ondragon - Menschenhunger
Schicht, die den Boden bedeckte. Ondragon strich darüber. Sie hatte eine merkwürdige Konsistenz, hart und doch wieder weich. Er roch an seinen Fingern. Bienenwachs? Stirnrunzelnd stellte er den Topf zurück auf die Feuerstelle und widmete sich wieder den Zeichnungen auf dem Stück Leder an der Wand. Es waren kleine, spiralförmig angeordnete Piktogramme, die eine Bildergeschichte darstellten. Am Anfang - zumindest hielt Ondragon es für einen solchen - war ein Dorf in einem Wald mit drei Lagerfeuern in der Mitte abgebildet. Daneben war in roter Farbe eine Gruppe gekrümmter und ausgemergelter Figuren gemalt worden. Diese dünnen Menschen befanden sich in der folgenden Darstellung im Krieg, zumindest hielten sie Waffen in den Händen und schlugen damit auf andere weißbemalte und blutende Menschen ein. Ein Bild weiter waren diese in Stücke zerteilt worden, und die dünnen Menschen genossen es sichtlich, das Fleisch ihrer Opfer von den Knochen zu nagen.
Ein Piepen ertönte, und Ondragon sah auf das Display seines Handys. Der Akku war demnächst leer. Doch vorher musste er noch diese Geschichte enträtseln. Er widmete sich wieder den Zeichnungen. Nach der Szene mit dem „Festmahl“ kam ein gemalter Wald mit gewellten Strichen über den Wipfeln, wahrscheinlich Wind oder Wolken, und wieder ein Dorf, diesmal bevölkert mit gut genährten Menschen, offensichtlich hatten sie sich satt gegessen.
Je weiter Ondragon in dieser Bilderspirale kam, desto kälter wurde ihm.
Wie hypnotisiert folgten seine Augen den krakeligen Figuren. Sie befanden sich jetzt im Wald. Sie waren auf der Jagd oder wieder im Krieg, mit Speeren und Bögen bewaffnet und mit schwarzer Farbe bemalt. Sie kamen an das Dorf, das verlassen war, die Feuer in der Mitte erloschen. Wieder Wald, dichter und dunkler als zuvor. Große runde Punkte stellten eine Spur dar, der die Jäger folgten. Und dann standen sie ihm plötzlich gegenüber. Ein Schauer jagte Ondragon über den Rücken, während er die befremdliche Figur betrachtete. Ein gedrungener Rumpf auf langen, stelzenartigen Beinen, darauf ein unförmiger Kopf mit Hörnern und rotglühenden Augen, bedeckt mit struppigem, grauem Fell.
Das musste er sein.
Der Wendigo.
Aber die Spirale war noch nicht zu Ende. Ein erneutes Piepen ignorierend folgte Ondragon den Bildern mit dem Licht vom Handy. Da ertönte hinter ihm ein Scharren.
Seine Hand erstarrte in der Bewegung.
„Hallo? Ist da jemand?“
Stille war die Antwort. Das Licht des Handys schwenkte über ein merkwürdiges Bündel, das neben dem Fell mit den Zeichnungen hing. Es waren mumifizierte Vögel an Schnüren, genau wie in dem Netz.
Es reichte! Doch gerade, als Ondragon den Rückweg antreten wollte, gab das Handy seinen Geist auf. Der Akku war leer. In der plötzlichen Dunkelheit packte ihn das Grauen wie eine kalte Hand. Fahrig tastete er nach der Wand, dabei stolperte er über den Topf am Boden. Ein lauter Fluch schallte in die Stille, als er hart gegen den Fels stieß und sich den Ellenbogen aufschrammte. Er benahm sich wirklich wie ein blutiger Anfänger!
Er drehte den Kopf. In welche Richtung musste er jetzt gehen? Trotz der Dunkelheit schloss er kurz die Augen, um sich zu konzentrieren.
Nach links natürlich. Reiß dich zusammen, verdammt noch mal!
Schnell bewegte er sich an der Wand entlang, bis vor ihm endlich grauer Lichtschein die Konturen der Höhle sichtbar machte. Der Ausgang.
Als er wenig später draußen im warmen Sonnenschein auf einem Stein saß und sich den Ellenbogen rieb, kam ihm seine erneute Panikattacke lächerlich vor. Genervt von sich selbst steckte er das Handy in seine Tasche und erhob sich. Höchste Zeit, zur Lodge zurückzukehren.
In gemächlichem Tempo lief er den holperigen Pfad entlang bis zum Hauptweg. Er wollte gerade linkerhand abbiegen, da drang ein Laut an sein Ohr. Lauschend blieb er stehen. Was war hier im Wald eigentlich los? Oder spielten seine Nerven jetzt endgültig verrückt?
Ondragon sah sich um. Dort, wo er stand, war das Buschwerk zwar etwas dichter, und hohe Nadelbäume schirmten das Sonnenlicht ab, aber es war nichts Auffälliges zu erkennen. Oder doch? War da hinten zwischen den Bäumen nicht eine Bewegung gewesen? Ondragon duckte sich hinter einen Strauch am Wegesrand. Da war jemand, definitiv.
Er hörte verhaltene Schritte im Unterholz und eine männliche Stimme, die einen Namen rief, ganz leise.
„Momo.“
Das war Pete, der nach seinem Bruder rief.
„Momo?“
Ondragon erhob sich
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