One Night Wonder
nur noch sehr wenige Leute an der Fakultät sein. Wir wären also praktisch allein. Ein guter Plan. Jetzt muss ich mir nur noch eine Frage ausdenken, die nicht so doof klingt, dass er mich für ’ne Idiotin hält, aber auch nicht so komplex, dass es zu konstruiert aussieht. Ich nehme mir vor, mich zu Hause ausgiebig in das Kursthema der nächsten Woche einzulesen.
An der Haltestelle wartet eine gelangweilte Gruppe halbwüchsiger Teenager. Als ich an ihnen vorbeilaufe, beginnen sie zu tuscheln.
»Hey, Gruftie!«, grölt mir einer hinterher.
»Hey, Vollspaten«, will ich fast zurückrufen, doch ich kann mich soeben noch bremsen. »De-es-ka-la-tion«, denke ich und beiße mir auf die Zunge. Doch es ist noch nicht das Ende vom Lied.
»Ey, ist das deine echte Haarfarbe, oder was?«
Nein, ich gucke nicht rüber. Ich lasse mich auch nicht provozieren.
»Trinkst du Blut?« Allgemeines zustimmendes Gelächter. Hilfe! Leuten mit Intelligenzquotient knapp oberhalb der Außentemperatur sollte das Sprechen in der Öffentlichkeit verboten werden. Außerdem verstehe ich die ganze Aufregung nicht, ich trage weder Samt, noch bin ich in ein wallendes Cape gehüllt. Meine schwarze Röhrenjeans halte ich für massenkompatibel, die Wildlederstiefel sind aus einem Oma-Schuhgeschäft, das einzig Auffällige sind die Haare und vielleicht die gefütterte Brokatjacke, die zwar schrecklich teuer, dafür aber auch ziemlich einzigartig ist. Wahrscheinlich reicht es schon, komplett schwarz gekleidet zu sein, denn rote Haare hat doch jede Dritte.
»Ey, ist dein Freund ein Vampir?« Schon wieder Gelächter. Wenn ich bloß ohne hinzusehen ausmachen könnte, wer der vorlaute Schreihals ist!
»Willste mich auch mal beißen?«
Ah, jetzt hab ich ihn. Ich werfe dem Jüngling einen bitterbösen Blick zu, doch leider beeindruckt ihn das überhaupt nicht.
»Ey, du süße Vampirbraut!«, brüllt er. Doch jetzt hat er einen Fehler gemacht. Die Stimmung im weiblichen Teil der Gruppe schlägt um, und der Alpha-Schreihals kriegt verbal ein paar ziemlich üble Rüffel verpasst. Eins der Mädels lässt sogar demonstrativ seinen Arm los und stellt sich ein Stück weg von ihm. Der vorlaute Teenie ist plötzlich sehr mit dem Besänftigen der holden Weiblichkeit beschäftigt, und ich habe wieder meine Ruhe.
Und dann endlich kommt die Bahn.
3. Kapitel
Ein arroganter Typ
Zu Hause angekommen, muss ich mich beeilen, denn es ist schon kurz vor neun. Halb zehn bin ich mit Marius verabredet. Er ist ein süßer Schatz und mein bester männlicher Freund. Ich sage, er ist schwul, aber er behauptet, er ist bi. Ganz heimlich vermute ich, dass es etwas mit seiner erzkatholischen Familie zu tun hat. Marius ist der dritte Spross einer alteingesessenen Unternehmer-Dynastie aus Bayern und so was wie das schwarze Schaf der Familie. Alle anderen haben irgendwelche tollen Posten in der familieneigenen Firma, nur er ist freiberuflicher Kommunikationsdesigner. Wobei ich das für einen ziemlich coolen Job halte. Seine Familie ist da wohl nicht so ganz meiner Meinung. Und wer weiß, was sie sonst noch alles über ihn vermuten.
Ich jedenfalls kenne keinen Hetero-Mann, der sich mit unbekümmertem Stolz ziemlich nackt für die Titelseite eines Gay-Magazins ablichten lässt und dieses Cover auch noch in seiner Wohnung aufhängt. Aber, na gut. Marius poliert seine Nägel mit einer Glanzfeile, er besitzt mehr Haarpflegeprodukte als ich, und er trägt hautenge Muscle-Shirts in Damengrößen. Mir ist es letztendlich egal, ob er lieber Männer als Frauen flachlegt. Jedenfalls ist er ein wunderbarer Mensch, und er kann ganz toll kochen. Und natürlich wohnt er in einem der hippsten Viertel in – wer hätte es gedacht – Köln, einer der gaysten Städte Deutschlands.
Ich habe dank eines zoo-Meter-Sprints die S-Bahn noch erreicht, sehe aber dementsprechend durcheinandergewirbelt aus, als ich Punkt halb zehn vor Marius’ Haustür stehe. Ich bin gespannt auf den neuen Mitbewohner, von dem ich schon so einiges gehört habe. Marius hat sich vor Kurzem entschlossen, eines seiner Zimmer zu vermieten, weil er zu der Erkenntnis gelangt war, dass ihm seine Vier-Zimmer-Wohnung zu groß ist und er das zusätzliche Geld gut gebrauchen kann.
»Hey, Baby, komm rein!«, sagt er und nimmt mir galant Jacke, Schirm und Handtasche ab. »Das Essen ist gleich fertig.«
»Oh, ich kann es kaum erwarten!«, strahle ich. Mein Magen fühlt sich an wie ein großes schwarzes Loch, das dringend gefüllt werden
Weitere Kostenlose Bücher