Oneiros: Tödlicher Fluch
bequem. Er aß einen weich gewordenen Schokoriegel, den er in der Fototasche bunkerte, und schoss sich zwei Einheiten Insulin.
Nach einer Stunde wurde ihm das Sitzen zu ungemütlich. Er stellte die Weckfunktion seines Smartphones auf 17 . 30 Uhr und legte sich hin, schloss die Augen und driftete in den Schlaf. Sollte es der falsche Tag sein, hätte er wenigstens eine entspannte Siesta im Schatten gehalten. Ein Luxus, den sich verantwortungsbewusste Todesschläfer nicht leisten durften. Er schon. Dank seines Tricks.
…
Beim ersten
Piep
riss Thielke die Augen auf und setzte sich langsam auf, um nicht durch eine schnelle Bewegung aufzufallen.
Es war dunkler geworden und nicht mehr ganz so heiß, aber es reichte, um ihn immer noch schwitzen zu lassen.
Behutsam, als wäre er Naturfotograf und wollte scheues Wild nicht verscheuchen, hob er die Kamera und richtete die Linse auf die Umgebung des Grabs von Jesús Domingo Hérnando Ibanez.
Eine nicht mehr ganz junge Frau in einem roten Kleid stand davor, sah auf die Uhr und legte eine weiße Rose auf die Grabplatte, eine zweite hielt sie in der Hand. Sie trug einen breitkrempigen Strohhut, flache Schuhe und Schmuck an den Handgelenken, der verriet, dass sie nicht gerade zu Madrids ärmsten Einwohnern gehörte. Ihre langen schwarzen Haare hatte sie zu einem dicken Zopf geflochten. Auf Anfang fünfzig schätzte er ihr Alter, doch die Figur war modelmäßig.
»Gute Gene oder sportverrückt«, sagte er leise und zündete sich eine Zigarre an. Aus seiner Hosentasche nahm er einen Salamiriegel und öffnete ihn einhändig. Routine.
Zoom, klick, klick, klick – ihr hübsches Gesicht war auf den Speicherchip der Nikon gebannt. Wer sie wohl war? Eine Ähnlichkeit zwischen ihr und Arctander vermochte er nicht zu erkennen.
Sie sah sich gelegentlich um.
Die unbekannte Schönheit wartet definitiv auf jemanden.
Thielke sah auf die Uhr und litt schrecklichen Durst. Er hatte nicht daran gedacht, sich etwas zu trinken mitzunehmen, und fühlte sich inzwischen dehydriert, was auch nicht eben gut wegen seines Diabetes war.
Kurz nach 18 Uhr erschien ein Mann, der eine Schirmmütze trug, eine riesige Sonnenbrille aufgesetzt hatte und sich Mühe gab, den Kopf möglichst weit auf die Brust zu senken, damit sein Gesicht nicht zu erkennen war.
Aber der Zoom der Nikon war gnadenlos: Bent Arctander.
Sein weißblau kariertes Hemd zeigte unzählige Knitterfalten, die Jeans nicht weniger. Er schlief sicherlich in den Klamotten.
Zuerst streunte er scheinbar ziellos in der Nähe des Grabs seines Urgroßvaters herum, dann näherte er sich der Frau, die eben die zweite Rose auf das Grab legte, und sprach sie an. Auf Englisch, wie Thielke durch das Objektiv anhand der Lippenbewegungen sah. Gut, das konnte er verstehen – solange er ihre Münder durch den Sucher sah.
Doch sie drehten sich weg. Mehr als ein paar Anhaltspunkte gewährten sie ihm nicht. Er glaubte
Stadion, Barcelona, Spiel, Karten
von Arctander zu verstehen.
»Du wirst doch nicht mit so einer Dame zu einem Fußballmatch gehen?«, grummelte er und verfolgte, wie Arctander gelegentlich Tabletten aus unterschiedlichen Dispensern schüttelte und schluckte.
Klick, klick, klick.
Die Worte
Ring
sowie
Handel
glaubte er auf den vollen Lippen der Dame gesehen zu haben, aber mehr ließ sich nicht mehr erkennen, bis sie sich die Hände reichten.
Thielke schoss noch ein paar Fotos von den beiden, dann steckte er die Kamera schnell weg. Er musste sich jetzt entscheiden: Folgte er der Frau, um herauszufinden, was das Treffen bezwecken sollte? Aber dann verlor er den Narko, der allen Ernstes beabsichtigte, sich ein Fußballspiel anzuschauen. In seiner Verfassung.
Bist du doch ein Psychopath, der die ganzen Menschen absichtlich umbringt, weil es dir einen kranken Kick gibt? Oder leidest du an grenzenloser Selbstüberschätzung?
Diese hypothetischen Fragen würden sich gleich erledigt haben. So neugierig Thielke auch war, es gab nur eine richtige Entscheidung. Zwei Schuss in den Kopf, und Arctander machte keinen Ärger mehr. Nie wieder.
Sie brachen auf, jeder in eine andere Richtung, genau wie Thielke es befürchtet hatte. Schweren Herzens folgte er Arctander, um ihn zu erschießen. Er humpelte hinter dem Schweden her. Die rechte Hand lag dabei am Griff des LeMat.
Madrids Hinterbliebene schienen mit Einsetzen des Abends beschlossen zu haben, Almudena zu stürmen. Überall liefen Leute, mit Gießkannen, Harken und anderen
Weitere Kostenlose Bücher