Oneiros: Tödlicher Fluch
voller Menschen, achtzigtausend Männer, Frauen, Kinder, durfte Thielke keinerlei Risiko eingehen und nicht zögern. Dass man ihn danach höchstwahrscheinlich schnappen und wegen Mordes verhaften würde, war ihm gleichgültig. Mit seiner schlechten Kondition und seinem Prothesenbein verlor er Wettrennen gegen Kleinkinder. Er würde einfach den verwirrten, zuckerkranken, nikotinsüchtigen Krüppel geben, die Auslieferung an Deutschland und Behandlung in einer Irrenanstalt verlangen, aus der er bequem verschwinden konnte.
Sie hatten sich dem Stadion inzwischen auf Sichtweite genähert. Davor stauten sich die Menschenmassen, man schob sich in geordneten Bahnen durch die Einlasskontrollen. Die Fans schwangen Fahnen und Schals, es wurde gegrölt, Schlachtgesänge schallten aus verschiedenen Richtungen und drangen durch die Scheiben des Taxis. Die Stimmung war gut und ausgelassen, die Fußballfreunde erwarteten ein Fest, sowohl auf den Rängen als auch auf dem Rasen.
Und mitten unter ihnen, ohne dass sie es wussten, befand sich der nahe Tod in Gestalt von Bent Arctander.
Thielkes Nackenhaare stellten sich auf. Ihm wurde kalt vor Angst um die vielen Leute.
Wie finde ich den Narko in diesem Trubel?
Der Einfall kam mit dem nächsten Blinzeln: Da er im Begriff stand, einen Menschen vor Tausenden von Zeugen zu erschießen, und anschließend ohnehin verhaftet wurde, konnte er auch gleich die Sicherheitszentrale stürmen und die Überwachungskameras zur Suche nutzen. Das bisschen Nötigung und Freiheitsberaubung fiele nicht weiter ins Gewicht und würde sein verwirrtes Verhalten sogar bestätigen.
»Weiter kommen wir nicht mehr. Stau.« Miguel grinste ihn an. »Na, Señor? Immer noch überzeugt, dass Sie Karten kriegen?«
»Schwarzmarkt. Irgendwo steht bestimmt jemand rum und vertickt Karten zu überteuerten Preisen.« Er bezahlte den Fahrer plus Trinkgeld, stieg aus und zündete eine Zigarre an. Eine Hand auf die Kameratasche stützend, hinkte er los und erreichte nach zehn Minuten die ausgelassene Meute. Es roch nach Grillfleisch, nach Bier, die Lieder tönten außerhalb des Wagens noch lauter als vorher.
»Das kann ich vergessen.« Thielke ging nicht davon aus, dass er Arctander selbst mit Hilfe der Sicherheitszentrale und der Kameraüberwachung fand. Es blieb eine unüberschaubare Gesichterzahl.
Aber aufgeben und die Menschen in der Gefahr zurücklassen konnte er nicht.
Daher entwickelte er auf die Schnelle einen neuen Plan.
Thielke entdeckte ein paar Gestalten, die Karten für dreihundert Euro anboten, und kaufte ein Ticket, ohne lange zu handeln. Flott gelangte er durch die lasche Schwerbehinderten-Einlasskontrolle, nachdem er auf unmissverständliche Weise verdeutlicht hatte, dass ihm ein Unterschenkel fehlte.
Thielke schob sich durch die Menschenmenge, schubste und drückte. Zu seinem stummen Entsetzen entdeckte er viele Kinder und Jugendliche unter den Fans. Das war ein zusätzlicher Ansporn für sein selbstloses Unterfangen.
80000 Menschen.
Er dachte gar nicht daran, zu den ausgewiesenen Arealen zu gehen, die wegen ihrer guten Sicht für Behinderte reserviert blieben, sondern suchte sich einen Weg zur Stadionsprecherkabine. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, dass es noch eine halbe Stunde bis zum Anstoß dauerte. Die Ränge waren bereits so gut wie restlos gefüllt.
Er humpelte hastig die Stufen zu der großen Glaskanzel hinauf, in der sich die Sprecherkabine befand, und verfluchte seinen Stumpf.
Ein Sicherheitsmann achtete darauf, dass kein Spaßvogel versuchte, ins Innere zu gelangen. Sein Name war Raphael, wie das Schild auf seiner Brust verriet. Er schlürfte einen Becher Cola, rauchte und unterhielt sich mit einer niedlichen Spanierin, welche die Farben von Real auf die Wangen und ihr stattliches Dekolleté gemalt hatte.
Durch den Flirt abgelenkt, bemerkte ihn der Sicherheitsmann erst, als er vor ihm stand und den LeMat unauffällig gegen den Bauch drückte. »Aufmachen.«
Raphaels Augen wurden groß. Er zog langsam seinen Schlüsselbund und öffnete die Kabine.
»Geh vor«, befahl Thielke und warf der verwunderten Spanierin, die den Revolver nicht sehen konnte, einen knappen Blick zu. »Er kommt wieder. Schön hierbleiben.«
Sie betraten den verglasten Raum, der von Kameramonitoren und einem langen Pult mit Hebelchen, Knöpfchen, Mikros und Leuchtdioden, mehreren Telefonen sowie fünf Bürostühlen davor beherrscht wurde. Vier waren besetzt, drei Männer und eine Frau unterhielten sich auf
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