Oneiros: Tödlicher Fluch
unvermittelt Ruhe.
»Was war das denn?« Tommaso erhob sich, betätigte die Spülung, zog die Hose hoch und wusch die Hände.
Die Triebwerksgeräusche hatten nicht nachgelassen, der A 380 fuhr nach wie vor zügig übers Rollfeld und suchte seinen Platz. Die Piloten schienen es eilig zu haben.
Tommaso musterte sich im Spiegel, tupfte sein Gesicht ab und zwinkerte sich zu. Kritisch fuhr er das dickliche Kinn entlang. »Habe schon mal besser ausgesehen«, sagte er, entriegelte und öffnete die Kabine. »Ciao,
bella!
Wenn Sie mir unbedingt …«
Beinahe wäre er über den Körper zu seinen Füßen gestolpert, und er erkannte die Chefstewardess, die leblos davor lag. Ein Sturz? Sie hatte die Augen weit aufgerissen, eine Wunde konnte er nicht entdecken. Herzinfarkt? Schlaganfall?
»Maledetto!«
Er bückte sich sofort und prüfte ihren Puls an der Halsschlagader, fand jedoch keinen. »Hilfe!«, rief er und lief in den Gang. »Ist ein Arzt an …« Tommaso verschlug es die Sprache: Die Passagiere saßen auf ihren Plätzen, die Glieder schlaff, die Köpfe auf der Brust oder zur Seite, einige hingen über die Lehnen. Was war hier los? Sie konnten doch nicht alle auf einen Schlag eingeschlafen sein.
Totenstille.
Panik erfasste Tommaso, als er an die Gasflasche des Arabers dachte, und er hielt sofort die Luft an. Giftgas! Er hatte doch recht gehabt!
Hastig trat er an einen Platz heran, riss an der Deckenverkleidung herum, bis sie wie durch ein kleines Wunder absprang und die Sauerstoffmaske darunter freigab.
Zumindest saß der bärtige Araber wie alle anderen auf seinem Sitz; er hatte die Augen geöffnet, eine Hand am Druckregulierer der Flasche, die bis zum Anschlag aufgedreht war. Leise zischend strömte der Inhalt in die Kabine.
Der Airbus rollte noch immer schnell vorwärts. Anscheinend hatte man im Cockpit nichts vom Anschlag bemerkt.
Ein Krachen erfolgte, und ein Zittern erfasste das Flugzeug, es begann zu schlingern.
Tommaso sah aus dem Fenster und erkannte, dass der A 380 zwei Gangways umgefahren hatte. Im grellen Scheinwerferlicht rannte das Bodenpersonal rudelweise hektisch umher, Fahrzeuge mit rotierenden gelben Lampen begleiteten den Airbus. In der Ferne tauchten Blaulichter auf.
Da kam ihm der schreckliche Gedanke, dass das Gas auch bis zu den Piloten gekrochen war! Das erklärte, weswegen der A 380 nicht bremste.
Vor ihm tauchten Ausleger der Terminals auf.
Er hegte keinen Zweifel, dass die Terroristen sich in der Kanzel befanden und den Airbus in eines der Gebäude jagen wollten.
»Porca miseria!«
Vor Tommasos innerem Auge entstand ein Inferno: einstürzende Hallen, auslaufendes Kerosin, Explosionen und Flammen, Tod und Vernichtung.
Sein Blick fiel auf den Leichnam des Sky Marshals, der ein Auge geschlossen und ein anderes geöffnet hatte. Die Linke lag am Griff seiner halbautomatischen Pistole, zum Ziehen war er nicht mehr gekommen.
Was sollte er nun tun? Fliehen oder einen heroischen Angriff auf die Terroristen im Cockpit wagen? Und wenn er rauswollte, dann wie? Notrutschen und dergleichen konnte er vergessen, solange die Fahrt andauerte. Aber die Tür zur Kanzel, war sie nicht eigentlich schlagfest und nicht zu knacken?
Er fühlte den Schweiß, der über seinen Rücken nach unten rann und das Hemd tränkte.
Dann wurde ihm jede Entscheidung abgenommen, als die Schnauze des A 380 mit dem Terminal 2 E kollidierte und sich in die Konstruktion aus Stahl und Glas bohrte, ohne den Schub zu verringern.
Eine Turbine detonierte spektakulär, fegte das Plastikglas aus den kleinen, ovalen Bullaugenfenstern im hinteren Teil des Flugzeugs und drückte lodernde Flammenzungen in den Innenraum.
Tommaso wurde durch den Aufschlag nach vorne katapultiert, prallte gegen einen Sitz und stürzte bewusstlos in den Gang. Um ihn herum breitete sich das von ihm befürchtete Inferno aus.
[home]
I
Das Mädchen:
Vorüber! Ach, vorüber!
Geh, wilder Knochenmann!
Ich bin noch jung, geh, Lieber!
Und rühre mich nicht an.
Der Tod:
Gib deine Hand, du schön und zart Gebild!
Bin Freund und komme nicht zu strafen.
Sei gutes Muts! Ich bin nicht wild,
Sollst sanft in meinen Armen schlafen!
Matthias Claudius (1740–1815), Der Tod und das Mädchen
Leipzig, Deutschland
K onstantin blickte auf die Uhr, die neben der Tür an der Wand hing und ihm zeigte, dass es kurz nach neun war.
Das Tagwerk wartete auf ihn und die Mitarbeiter von
Ars Moriendi,
seiner Firma, die er gern scherzhaft
Ruhe Sanft GmbH
nannte,
Weitere Kostenlose Bücher