Onkel Wolfram - Erinnerungen
Mikroskop und bildete mir ein, eine winzige Welt zu sehen, eine letzte, fundamentale Welt, milliarden- oder billionenmal kleiner als unsere eigene - wirklich die kleinsten Bausteine der Materie.
Onkel Dave hatte mir Blattgold gezeigt, das man fast bis zur Durchsichtigkeit getrieben und gehämmert hatte; jedenfalls ließ es Licht durch, ein prächtiges blaugrünes Licht. Dieses Blattgold sei nur ein paar millionstel Zentimeter dick, sagte er, da hätten nur einige Dutzend Atome nebeneinander Platz. Mein Vater hatte mir gezeigt, dass man eine sehr bittere Substanz wie Strychnin millionenfach verdünnen und trotzdem noch schmecken konnte. Gern experimentierte ich auch mit hauchdünnen Häutchen, indem ich etwa in der Badewanne Seifenblasen bildete - ein Nichts an Seifenwasser ließ sich, wenn man sorgfältig blies, zu einer riesigen Blase aufblähen; oder ich beobachtete, wie sich auf einer nassen Straße ein schillernder Ölfilm ausbreitete. All das übte mich in gewisser Weise darin, mich in allerkleinste Verhältnisse hineinzudenken - die Winzigkeit der Teilchen, die das wenige Millionstel Zentimeter dicke Blattgold, die Seifenblase oder den Ölfilm zusammensetzten.
Doch worauf Dalton hinauswollte, war weitaus aufregender: Ihm ging es nicht um Atome im Newton'schen Sinne, sondern um Atome, die individuell so verschieden waren wie die Elemente selbst - Atome, deren individuelle Besonderheit den Elementen die ihre verlieh.
Später fertigte Dalton aus Holz Atommodelle an, die ich als Kind im Science Museum im Original betrachten konnte. So grob und schematisch sie auch waren, sie beflügelten meine Phantasie und vermittelten mir den Eindruck, dass es die Atome wirklich gab. Das ging jedoch durchaus nicht allen Betrachtern so, denn für einige Chemiker verkörperten Daltons Modelle den ganzen Blödsinn der Atomhypothese, wie sie meinten. «Atome», schrieb noch achtzig Jahre später der namhafte Chemiker H.E. Roscoe, «das sind runde Holzklötzchen, die Mr. Dalton erfunden hat.»
Zu Daltons Zeit war es in der Tat möglich, das Konzept von Atomen für unwahrscheinlich oder völlig unsinnig zu halten, und es sollte noch mehr als ein Jahrhundert vergehen, bevor die Existenz von Atomen unzweifelhaft bewiesen war. Auch Wilhelm Ostwald schrieb noch 1902 in seinen Grundlinien der anorganischen Chemie:
Die Verhältnisse der chemischen Vorgänge sind… als wären die Stoffe aus Atomen… daraus folgt bestenfalls die Möglichkeit , dass sie es wirklich sind, nicht aber die Sicherheit… Man darf sich durch diese Übereinstimmung zwischen Bild und Wirklichkeit aber nicht verleiten lassen… Eine Hypothese ist im allgemeinen ein Hilfsmittel der Vorstellung .
Heute können wir natürlich einzelne Atome «sehen» und mit Hilfe eines Raster-Kraftmikroskops sogar manipulieren. Doch es bedurfte ganz zu Anfang des 19. Jahrhunderts schon großen Weitblicks und Mutes, um Gebilde zu postulieren, die sich damals so gründlich jeder Möglichkeit eines empirischen Nachweises entzogen. [33]
Seine chemische Atomtheorie führte Dalton am 6. September 1803, seinem siebenunddreißigsten Geburtstag, in seinem Notizbuch aus. Zunächst war er zu bescheiden oder zu schüchtern, um irgendetwas über seine Theorie zu veröffentlichen (er hatte jedoch die Atomgewichte von einem halben Dutzend Elementen - Wasserstoff, Stickstoff, Kohlenstoff, Sauerstoff, Phosphor, Schwefel - ausgearbeitet und in seinem Notizbuch festgehalten). Dennoch sprach es sich rasch herum, dass er auf etwas Erstaunliches gestoßen sei, und Thomas Thomson, der namhafte Chemiker, machte sich auf nach Manchester, um ihn kennen zu lernen. Ein einziges kurzes Gespräch mit Dalton im Jahr 1804 «bekehrte» Thomson und veränderte sein Leben. «Ich war wie verzaubert», schrieb er später. «Auf mein Denken fiel ein neues Licht, und ich erkannte mit einem Blick die ungeheure Bedeutung dieser Theorie.»
Zwar hatte Dalton einige seiner Ideen bereits in der Literary and Philosophical Society in Manchester vorgetragen, doch bei einem breiteren Publikum bekannt wurden sie erst, als Thomson über sie schrieb. Dessen Darlegungen waren glänzend und überzeugend, weit wirkungsvoller als Daltons eigene Ausführungen, die ungeschickt auf den letzten Seiten der 1808 erschienenen Schrift New System zusammengedrängt standen.
Doch Dalton selbst wurde klar, dass seine Theorie grundlegende Probleme aufwarf. Um vom Verbindungs- oder Äquivalentgewicht zum Atomgewicht zu gelangen, brauchte man die
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