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Onkel Wolfram - Erinnerungen

Onkel Wolfram - Erinnerungen

Titel: Onkel Wolfram - Erinnerungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Sacks
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hatte fast das Empfinden, es betreten zu können - wie die Dioramen im Museum.
    Diese Bilderpaare wiesen eine kleine, aber entscheidende Parallaxe oder Perspektivenverschiebung auf, und diesem Umstand verdankten sie ihre Tiefenwirkung. Man konnte nicht entscheiden, was ein Auge sah, weil beide Bilder magisch miteinander verschmolzen und einen einzigen, geschlossenen Eindruck erzeugten.
    Der Umstand, dass Tiefe eine Konstruktion, eine «Fiktion» des Gehirns war, bedeutete, dass man Täuschungen, Illusionen, Tricks der verschiedensten Art aufsitzen konnte. Ich habe nie eine Stereokamera besessen, konnte aber zwei Bilder nacheinander aufnehmen, wobei ich die Kamera zwischen den Aufnahmen um ein paar Zentimeter verschob. Fiel die Bewegung der Kamera größer aus, wurden die parallaktischen Bildunterschiede übertrieben, sodass die beiden Fotos, wenn sie verschmolzen wurden, eine vergröberte Tiefenwirkung hervorriefen. Ich fertigte ein Hyperstereoskop an. Dazu setzte ich in eine Pappröhre schräge Spiegel, die den Abstand zwischen den Augen auf über einen halben Meter vergrößerten. Damit ließen sich die unterschiedlichen Tiefen ferner Gebäude oder Hügel hervorragend herausarbeiten, doch die Wirkung bei kurzen Entfernungen war grotesk - so gab es beispielsweise den Pinocchio-Effekt, wenn man in die Gesichter von Menschen blickte; ihre Nasen schienen zwanzig, dreißig Zentimeter aus ihrem Gesicht herauszuragen.
    Faszinierend war auch die Umkehrung der Parallaxe. Das ließ sich leicht mit Stereofotografien machen, aber auch mit einem Pseudoskop bewerkstelligen, das aus einer kurzen Pappröhre und Spiegeln bestand, die so angeordnet waren, dass die scheinbare Position der Augen umgekehrt wurde. Auf diese Weise rückten ferne Objekte näher heran als Dinge, die sich im Vordergrund befanden - ein Gesicht sah beispielsweise aus wie eine konkave Maske. So kam es zu einer interessanten Rivalität, einem faszinierenden Widerspruch, denn das, was man wusste, lieferte mit allen sonstigen visuellen Hinweisen eine bestimmte Deutung der Welt, während die pseudoskopischen Bilder eine ganz andere anboten - man sah erst eine Sache und dann eine ganz andere, während das Gehirn zwischen verschiedenen Wahrnehmungshypothesen schwankte. [29]
    Die Umkehrung dieser Prozesse - eine Art von Dekonstruktion oder Zerlegung - erlebte ich manchmal, so wurde mir klar, wenn ich meine Migränen hatte, die oft von merkwürdigen visuellen Wahrnehmungsveränderungen begleitet waren. Gelegentlich ging mein Farbensinn für kurze Zeit verloren oder veränderte sich. Die Dinge sahen flach aus, wie Ausschneidefiguren. Oder statt normale Bewegungen zu sehen, erblickte ich flackernde Standbilder, als ließe Walter seinen Filmprojektor zu langsam laufen. Manchmal fiel auch mein halbes Gesichtsfeld aus, dann fehlten auf der einen Seite alle Dinge, oder Gesichter waren halbiert. Bei den ersten Anfällen war ich entsetzt - vor dem Krieg, mit vier oder fünf Jahren fing das an, aber als ich es meiner Mutter erzählte, sagte sie, sie habe ähnliche Anfälle, sie seien nicht gefährlich und würden nur einige Minuten andauern. Daraufhin begann ich, mich auf meine gelegentlichen Migräneanfälle zu freuen und mich zu fragen, was wohl beim nächsten passieren werde (nie glich einer dem anderen), womit das Gehirn in seiner Genialität das nächste Mal aufwarten würde. Die Migräne und die Fotografie haben mir wohl zusammengenommen die Richtung gewiesen, die ich Jahre später einschlagen sollte.
    Mein Bruder Michael war ein glühender Bewunderer von H. G. Wells. In Braefield lieh er mir sein Exemplar von Die ersten Menschen auf dem Mond . Es war ein schmaler, in blaues Saffianleder gebundener Band. Die Abbildungen beeindruckten mich genauso tief wie der Text - die dünnen Seleniten im Gänsemarsch und der große Lunar mit seiner aufgeblähten Hirnschale in seiner von Pilzen erleuchteten Höhle auf dem Mond. Ich fand Gefallen an dem Optimismus und der Aufregung der Reise durch den Weltraum und an der Vorstellung, dass es ein Material («Cavorit») gäbe, das von der Gravitation nicht durchdrungen werden könnte. Eines der Kapitel hieß «Im unendlichen Raum», und mich begeisterte die Vorstellung von Mr. Bedford und Mr. Cavor in ihrer kleinen Kugel (sie ähnelte Beebes Tauchkugel, von der ich Bilder gesehen hatte), wie sie die Cavoritläden herunterließen, um die Schwerkraft der Erde auszuschließen. Die Seleniten, die Mondmenschen, waren die ersten

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