Onkel Wolfram - Erinnerungen
mein Labor verließ und in die Bibliothek des Science Museum fuhr. Es war unübersehbar, dass die Geschichte der Wissenschaft keine geradlinige Entwicklung darstellte, dass sie wilde Sprünge machte, sich in mehrere Stränge aufteilte, auseinander lief, wieder zusammenführte, sich wiederholte, in Sackgassen geriet oder festfuhr. Es gab einige bedeutende Forscher, die selbst der Geschichte wenig Beachtung schenkten (und möglicherweise haben sie gut daran getan, sich nicht um ihre Vorläufer zu kümmern - Dalton hätte sicherlich mehr Skrupel gehabt, seine Atomtheorie vorzuschlagen, hätte er die umfangreiche und verwirrende Geschichte des Atomismus gekannt, die immerhin zweitausend Jahre alt war). Andere dagegen beschäftigten sich fortwährend mit der Geschichte ihres Gegenstands, was ihre Beiträge zum Fortschritt der Wissenschaft dann auch widerspiegelten. Zweifellos ist dies der Fall bei Cannizzaro. Er setzte sich intensiv mit Avogadros Arbeit auseinander, erkannte wie keiner vor ihm, welche Bedeutung die Hypothese seines Vorgängers hatte, und bewirkte mit ihr und der eigenen Kreativität eine Revolution in der Chemie.
Leidenschaftlich vertrat Cannizzaro die Überzeugung, man müsse Studenten mit der Geschichte der Chemie vertraut machen. In einem schönen Aufsatz über die Lehre der Chemie beschrieb er, wie er junge Menschen an das Studium dieser Wissenschaft heranführte. Man müsse «sich bemühen, sie… auf die gleiche Bewusstseinsebene wie Lavoisiers Zeitgenossen zu stellen», damit sie wie diese die ganze revolutionäre Kraft, das wunderbar Neue von Lavoisiers Denken erführen. Und dann, ein paar Jahre weiter, müsse man ihnen die plötzliche, unglaubliche Eingebung Daltons vermitteln.
«Oft geschieht es», schloss Cannizzaro, «dass das Denken eines Menschen, der eine neue Wissenschaft erlernt, alle Stadien durchlaufen muss, die die Wissenschaft selbst bei ihrer Entwicklung hat erkennen lassen.» Cannizzaros Worte machten tiefen Eindruck auf mich, weil auch ich in gewisser Weise die Geschichte der Chemie noch einmal durchlebte und all die Entwicklungsstadien wiederentdeckte, in denen sich ihr Fortschritt vollzogen hatte.
KAPITEL VIERZEHN
KRAFTLINIEN
In sehr jungen Jahren hatte mich die «Reibungselektrizität» fasziniert, jene Art von Elektrizität, die dazu führt, dass Bernstein Papierschnipsel anzieht, wenn man ihn reibt. Als ich aus Braefield zurückkehrte, begann ich von den «Elektrisiermaschinen» zu lesen - Scheiben oder Kugeln aus irgendeinem nicht leitenden Material, die man mit einer Kurbel drehte und gegen die Hand, ein Tuch oder ein Kissen rieb. Das gab eindrucksvolle Funken oder starke elektrische Schläge. Es schien nicht allzu schwer, solche einfachen Maschinen anzufertigen; bei meinem ersten Versuch, eine zu bauen, verwendete ich eine alte Schallplatte als Scheibe. Die Grammophonplatten wurden damals aus Vulkanit hergestellt, einem Material, das sich leicht elektrifizieren ließ. Das einzige Problem bestand darin, dass sie dünn und zerbrechlich waren und leicht kaputt gingen. Für eine zweite, haltbarere Maschine benutzte ich eine dicke Glasplatte und ein Kissen aus Leder, das mit Zinkamalgam überzogen war. Bei trockenem Wetter konnte ich prächtige Funken von ein paar Zentimetern Länge erzeugen. (Bei feuchtem Wetter ging gar nichts, weil dann alles leitete.)
Man konnte die Elektrisiermaschine auch an eine Leidener Flasche anschließen - im Prinzip ein Glasgefäß, auf beiden Seiten mit Zinnfolie verkleidet. Oben trug sie eine Metallkugel, die durch eine Metallkette mit der inneren Folie verbunden war.
Schaltete man mehrere derartige Flaschen zusammen, konnten sie eine ordentliche Ladung halten. Mit einer solchen «Batterie» von Leidener Flaschen hatte man im 18. Jahrhundert, wie ich las, einer Reihe von achthundert Soldaten, die Hand in Hand miteinander verbunden waren, einen fast lähmenden Schlag versetzt.
Außerdem bekam ich eine kleine Wimshurstmaschine, ein wunderschönes Gerät mit rotierenden Glasscheiben und strahlenden Metallsektoren, die eindrucksvolle Funken von bis zu zehn Zentimetern Länge erzeugen konnten. Wenn sich die Platten der Wimshurstmaschine schnell drehten, wurde alles in der Nähe extrem aufgeladen: Quasten wurden elektrisiert, sodass ihre Fäden starr abstanden, Kügelchen aus Holundermark flogen auseinander, und man spürte die Elektrizität auf der Haut. Gab es in der Nähe eine scharfe Spitze, zog sie leuchtende Büschel von Elektrizität
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