Online Wartet Der Tod
Wodka.
Sie warf einen Blick auf den Digitalwecker, der auf dem Fernseher stand. Neun. Bald würde Ellie anrufen und fragen, ob alles in Ordnung sei. So, wie sie es immer tat.
Auch in New Iberia, Louisiana, dachte am selben Abend eine Mutter an ihre Tochter. Evelyn Davis saß mit der besten Freundin ihrer Tochter, Suzanne Mouton, auf dem kleinen Sofa in ihrem Atelier.
Bei genauerer Betrachtung, dachte sie, ist Suzanne vielleicht gar nicht mehr Amys beste Freundin. Vielleicht ist sie es nie gewesen. Suzanne hatte in der Highschool zu Amys Clique gehört, so viel stand immerhin fest. Evelyn wusste noch, dass die anderen Mütter es immer toll gefunden hatten, diese Freundin bei ihrem vollen Namen zu nennen. Suzanne – ausgesprochen wie im frankophonen Kanada, Susahn – Mouton. Das klang so hübsch. Aber Suzanne hatte immer nur zur Gruppe gehört und nicht zu den wenigen, einander ablösenden Mädchen, mit denen Amy ganz eng befreundet gewesen war.
Dass Evelyn jetzt, fünfzehn Jahre später, eng mit Suzanne verbunden war, hatte eher damit zu tun, dass Suzanne als Einzige von Amys Freundinnen in Louisiana geblieben war. Und nach dem Tod von Suzannes Mutter – da hatte Suzanne gerade mit dem Studium an der Louisiana State University angefangen – war Evelyn eingesprungen und hatte sich bemüht, dem Mädchen in der schweren Zeit beizustehen.
Amys Besuche daheim waren schon während der College-Zeit selten gewesen. Damals hatte Evelyn angenommen, ihre Tochter sei zu beschäftigt mit ihren Vorlesungen am Colby, um ständig von Maine herüberzufliegen. Doch dann waren sogar ihre Besuche während der Ferien immer kürzer geworden.
Wirklich überraschend fand Evelyn es nicht, dass sie und ihr einziges Kind sich auseinandergelebt hatten. Amy war immer ein Vater-Kind gewesen. Genau wie ihr Vater hätte sie lieber in Houston gelebt. Oder in San Francisco oder, noch besser, in New York. Überall, nur nicht in diesem Bayou-Nest, wie sie es nannte. Sie hatte sich große Mühe gegeben, auch nicht einen Hauch von dem Dialekt anzunehmen, der ihr womöglich hinderlich sein konnte, wenn sie dem Land von Zuckerrohr und Alligatoren endlich entkam.
Und immer hatte ihr Abscheu gegenüber Louisiana sich in Groll gegen ihre Mutter geäußert. Amy hatte genau gewusst, dass ihre Mutter diejenige war, die darauf bestand, dass die Familie in dem einzigen Bundesstaat wohnen blieb, den sie je kennengelernt hatte. Das hatte sie zur Bedingung gemacht, als sie Hampton heiratete. Ironischerweise hatte sie deshalb darauf bestanden, weil ihre eigene Mutter sie brauchte.
In den vergangenen Jahren allerdings war eine Veränderung mit Amy vorgegangen. Vielleicht weil sie endlich in einer Stadt lebte, die sie sich ausgesucht hatte. Vielleicht auch wegen ihrer Arbeit im Museum, die ihr so viel Freude machte. Immerhin war es Evelyn gewesen, die sie in ihrem Interesse an Kunst bestätigt und ermutigt hatte. Vielleicht war es auch einfach nur der Prozess des Reifens gewesen, die Einsicht, dass jede Geschichte, jeder Mensch, jede Ehe zwei Seiten hat.
Das würde sie nie erfahren. Sie musste jetzt eine Tasche packen, nach New York fliegen und den Leichnam ihrer Tochter in die Stadt holen, die sie immer gehasst hatte.
»Vielen Dank, dass du gekommen bist, Suzanne.« Das nasse Papiertaschentuch in Evelyns Hand war zu Krümeln zerfallen.
»Das ist doch selbstverständlich.« Suzanne gab Evelyn ein neues Tuch und warf das alte in den Papierkorb. »Soll ich wirklich nicht mitkommen nach New York? Ein paar Tage kann J. D. sich um die Kinder kümmern.«
»Es wird schon gehen. Hampton kommt direkt aus Dallas.«
Suzanne schwieg, aber ihre Miene sagte genug. Evelyn tat ihr leid, nicht nur, weil dort oben im Norden die Sache mit Amy passiert war, sondern auch, weil Amys Vater die Abwicklung seines Geschäftes in Dallas nicht beschleunigen konnte, um mit seiner Frau zu trauern. Evelyn hatte gelernt, sich nicht zu beklagen. Sie hatte darauf bestanden, dass er in dem Büro arbeitete, das seine Anwaltssozietät in Lafayette unterhielt. Reisen gehörte zu seinem Alltag. Ja, es sei hart – für sie beide –, hatte er gesagt, aber es habe doch überhaupt keinen Sinn, wenn er einen ganzen Tag mit der Fahrt nach Hause zubringe, nur um gleich wieder nach New York aufzubrechen. Besser wäre es, sie würden sich am nächsten Tag direkt am LaGuardia Airport treffen.
»Wenn ich dir sage, was ich mitnehmen muss, würdest du dann für mich packen?«, fragte Evelyn.
Weitere Kostenlose Bücher