Online Wartet Der Tod
»Ich kann mich einfach nicht aufraffen, dieses Zimmer zu verlassen. Ich hätte es nicht umräumen dürfen. Ihre Sachen hätten hierbleiben müssen. Ein Atelier in ihrem Zimmer einzurichten – wie affig.«
Suzanne gab sich alle Mühe, sie zu trösten, aber sie wussten beide, dass es für eine Mutter, die ihr Kind begraben muss, keinen Trost gibt. Ihr einziges Kind. Ihre Kleine, in einer dunklen Gasse erwürgt und neben einem Container zurückgelassen wie Abfall.
»Wie konnte das nur passieren?« Jetzt schluchzte Evelyn haltlos. »Sie war immer so vorsichtig. Seit ihrem ersten Tag im College war sie immer so vorsichtig. Sie war über dreißig, und noch …«
Suzanne ließ sie weinen; sie summte beruhigend und streichelte ihr den Rücken. Der Begriff Ironie des Schicksals wurde leicht überstrapaziert, aber hier traf er zu: Amy ermordet. Eine Zahl in der Statistik. Noch eine Frau, die umgebracht worden war, als sie allein durch eine Gegend ging, von der andere gesagt hätten, dort solle eine Frau nicht allein unterwegs sein. Die Ironie bestand darin, dass Amy – wie ihre Mutter gesagt hatte – immer so extrem vorsichtig gewesen war. Sie war so vorsichtig gewesen, dass sie gar keine Männer kennengelernt hatte – und deshalb immer noch abends allein unterwegs war.
»In all den Jahren hat sie nie Zutrauen zu jemandem gefasst. Vielleicht, wenn diese schreckliche Sache damals nicht passiert wäre. Vielleicht hätte sie dann nicht in der Stadt gelebt. Oder wäre wenigstens nicht allein gewesen.«
Evelyn wusste, dass gerade Suzanne sich an das Vorkommnis erinnerte. Amy hatte ihre Lektion gelernt. Sie hatte vorsichtig sein müssen. Vorsichtig mit Männern. Vorsichtig mit Zutrauen. Vorsichtig mit der Unberechenbarkeit menschlicher Emotionen. Diese Lektionen waren wichtig, aber Amy war noch zu jung gewesen und hatte sie vielleicht zu gründlich gelernt. Viele Frauen waren über dreißig und noch unverheiratet, aber Amy hatte noch nicht einmal eine ernst zu nehmende Beziehung gehabt. Nie. Sie war zu vorsichtig gewesen, zu misstrauisch, zu wenig bereit, sich angreifbar zu machen.
Evelyns Schluchzen ebbte ab, und ihr Atem ging wieder ruhiger. Sie stand auf, zog ihren Pullover glatt und begann zusammenzusuchen, was sie für die Reise brauchte. »Meine Tasche packe ich selbst, aber es gibt etwas anderes, viel größeres, worum ich dich bitten möchte. Kannst du eine Katze bei dir aufnehmen? Einen Perserkater. Ich habe alles versucht, um Hamp dafür zu gewinnen, aber er hat eine Allergie.«
7
Die Büros von FirstDate befanden sich im achtzehnten Stock eines mittelgroßen Hochhauses am Rector Place Ecke Greenwich Street, im Financial District. Hinter einem glänzenden schwarzen Schalter, der zwischen dem Fahrstuhl und einer doppelten Glastür postiert war, hielt eine rothaarige Empfangsdame Wache. Durch das Glas sah Ellie zehn oder zwölf Leute in identischen halb offenen Zellen sitzen und auf Tastaturen herumhacken. An der Außenwand waren ein paar Einzelbüros untergebracht.
Eine gute Wache gab die Rothaarige nicht ab. Sie saß zurückgelehnt in ihrem Bürostuhl und führte ein angeregtes Handytelefonat, wobei sie unentwegt eine wellige Haarsträhne zwirbelte. Ellie trommelte mit den Fingern auf der Schreibtischplatte, bewirkte damit aber nicht mehr als ein Nicken. Erst als sie ihre Dienstmarke aufblitzen ließ, reagierte die Frau.
»Ich ruf dich gleich zurück.« Sie klappte das Telefon zu, straffte sich und fragte, wie sie helfen könne. McIlroy sagte, sie hätten gern ein paar Auskünfte zu einigen Profilnamen, auf die sie im Rahmen polizeilicher Ermittlungen gestoßen seien.
»Ich bedaure. Es widerspricht unserer Firmenpolitik, Informationen über unsere Kunden herauszugeben.«
Offenbar hatten alle FirstDate-Angestellten dieselbe Schulung erhalten.
»Genau darüber würden wir gern mit jemandem hier sprechen«, erklärte McIlroy. »Natürlich verstehen wir die Hintergründe Ihrer Firmenpolitik, aber das ist doch jetzt ein wenig befremdlich. Bei unserem Fall handelt es sich um zweifachen Mord. Zwei Frauen sind tot, und beide waren bei FirstDate. Da werden Sie doch wohl einsehen, dass es dringend ist.«
Die Augen der Empfangsdame weiteten sich, als er von zweifachem Mord sprach – was nicht ganz korrekt war, denn zwischen den beiden Morden lag exakt ein Kalenderjahr. Ellie sah den Zeigefinger der Frau über ein Nummernverzeichnis wandern, das neben dem Telefon auf der Tischplatte klebte.
»Ich weiß
Weitere Kostenlose Bücher