Onno Viets und der Irre vom Kiez (German Edition)
sechzehn ist der kleine Solist. Siebzehn Schiffsführer Erich L. Achtzehn der junge Mensch mit dem amputierten Kinnzopf, der sich immer noch den Hals hält, an dem ihn der Hüne vorhin kurzfristig fixiert hat; neunzehn der braungebrannte Rentner …
Dagmar verweilt mit dem Fokus nicht lang auf den Gesichtern, dennoch hinkt sie der Zählung stets hinterher, und so wischt die Kamera sogar über einige hinweg. Und doch sind ihre schweifenden, verwackelten Porträts mimische Echos von Schock und Schrecken. Obwohl der Hüne ihn bei der Zählung überging, nimmt Dagmar auch den weißen, flauschigen Leichnam des Hundes auf – ein unförmiger Bettvorleger mit einem See von Blut oberhalb der Halsöffnung und einer Spritzlache Kot unterhalb des Schweifs. Nummer zwanzig, nach wie vor auf Platz C, Tisch 5, der Mann mit der schlaffen Lederleine. (Sein Schock war so schwer, daß er drei Monate in einer psychiatrischen Einrichtung zubringen mußte.) Die beiden Rentnerinnen (einundzwanzig, zweiundzwanzig), Vater und schwer traumatisierter Sohn (dreiundzwanzig, vierundzwanzig), die beiden Engländerinnen (fünfundzwanzig, sechsundzwanzig), die beiden nach wie vor trostlos vor sich hinduftenden Herren (siebenundzwanzig, achtundzwanzig). Der Blinde plus Begleitung (neunundzwanzig, dreißig). Einunddreißig Ellen, verdummt vor Angst, deren bleicher, aufgeweichter Physiognomie Dagmar auch nicht mehr Zeit widmet als allen anderen – als erkenne sie sie gar nicht, oder könne sich nicht an sie erinnern.
UT1: Einunddreißig!
Nicht mitgezählt: Dagmar, der Hüne selbst und die beiden alten Herrschaften auf der Heckveranda. Und der Mann mit der Baskenmütze.
Zu dem der Hüne nun wieder zurückkehrt – allerdings ohne sich auf seinen alten Platz zu setzen. Er bleibt, mit dem klafterbreiten Rücken zur Kamera, am Tisch stehen, Bellas Kopf mit den linken Krallen kraulend.
UT1: Einunddreißig, Dicker! Einunddreißig Stück.
Zu diesem Zeitpunkt ist der Fortschrittsbalken von Clip 4 zu zwei Dritteln vorgerückt. Wer während der rund zwanzigminütigen Dialog-Einstellung vergessen haben sollte, daß die sich auf einem Schiff mit ingesamt drei Dutzend Passagieren abgespielt hat, dem ist es bei der Volkszählung wieder augenfällig gemacht worden.
Ein eigenartiger Effekt. All dieses Gerede über etwas, das kein Mensch versteht – außer den Rednern selbst (und selbst die phasenweise anscheinend nur teilweise): einem schweißtriefenden Mann mit Baskenmütze, dem die Schuhcreme aus dem absurden Bart läuft, so daß man ihm beim Ergrauen buchstäblich zuschauen kann, und einem splitternackten, schwermuskulösen, totaltätowierten Hünen ohne Haare, Zähne und Ohren, doch mit Hörnern. All dieses Gequatsche, zwanzig Minuten lange Gesabbel unterm Wahrzeichen eines blutigweißen Hundehaupts im Maulkorb hat – so wird dem Betrachter bei dieser 360-Grad-Kamerafahrt abrupt wieder vor Augen geführt – auf einem Schiff der sog. Alsterflotte stattgefunden, dessen Schiffsführer samt vierunddreißig Passagieren sich währenddessen nicht vom Fleck gerührt haben. Was allerdings nicht unerklärlich ist, denn all das findet inmitten eines blauzuckenden Großaufgebots der hansestädtischen Exekutive statt, wie jeder sehen kann, der sehen kann. Warum das Risiko einer Gegenwehr eingehen, wenn die Rettung so nah ist?
Also gewöhnen sie sich an den Hünen. So lange, bis nicht er ihnen mehr verrückt vorkommt, sondern sie sich in ihrer eigenen Position verrückt vorkommen. Seine Präsenz ist so signifikant und aktiv und hört einfach nicht auf – erfährt keinerlei Auflösung –, daß es nur so sein kann.
UT1: Einunddreißig. Ich geb dir noch einunddreißig Chancen, Dicker. Ich geb dir noch einunddreißig Chancen, mir zu erklären, wieso du mich so verarscht hast.
Das zahnlose Genuschel ist nach wie vor schwer verständlich. Andererseits befleißigt sich der Hüne keiner sonderlichen Diskretion anläßlich dieses seines Ultimatums. Als eine gewisse Ahnung davon in der ein oder anderen Psyche Grauen entzündet, das sich wenn nicht wie ein Lauffeuer, so vielleicht wie in einem morphogenetischen Feld ausbreitet, lodern hier und da Wimmern und Schluchzen auf.
Als der Hüne merkt, daß er einen taktischen Fehler begangen hat, grölt er:
UT1: RUHE, VERDAMMT NOCH MAL!
Macht zwei, drei ratlose, klebrige Schritte auf und ab. Baut sich schließlich vor dem Shantyboy-Solisten auf und nuschelt etwas, das der Webmaster sehr gut herausgehört
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