Onno Viets und der Irre vom Kiez (German Edition)
und Rächer der von der menschlichen Dekadenz Korrumpierten verehrt. Die meisten User sind sich einig in der Einschätzung, daß dessen ruck, zuck als Dim mak identifizierter Schlüsselbeinschlag gewirkt und der offensichtliche Verräter sein wohlverdientes Ende gefunden habe. Außer diesem Verräter und dem »snobistischen Köter« habe der Hüne ja niemandem was zuleide getan. (Das Aktenzeichen, unter dem eine eindrucksvolle Liste seiner Gewaltopfer zu finden ist, liegt mir vor – eigentlich müßig, das zu erwähnen.)
Obwohl Dagmar und Ellen, der Blinde und seine Begleitung uneingeschränkt die Verve betont hatten, mit der der Mann mit dem Bart den Aggressor durch offensives Reden hinhielt: In den Medien fand seine exorbitante Rolle keineswegs exorbitante Erwähnung. (Glücklicherweise.) Stets wurde er max. als »Geisel Onno V. (53)« erwähnt, die kurz vor dem Zusammenbruch des Geiselnehmers in ein Handgemenge mit der »überforderten Kamera-Geisel« Dagmar F. (47) verstrickt gewesen sei. Da ich Onno samt Dagmar, Ellen und dem Blinden nach der medizinischen Behandlung und kriminalpolizeilichen Befragung und Ermittlung rasch abzuschirmen vermochte; da die Unschuld der Geiseln und der nackte Wahnsinn des Hünen so offensichtlich erschienen, entwickelte die Öffentlichkeit keinerlei gesteigertes Bedürfnis, den düster-pittoresken Schlamassel anders zu werten als das, was er war: die Tat einer psychisch schwer gestörten Milieugröße.
Natürlich gab es den ein oder anderen Reporter, der die Flöhe husten hörte. Doch entwickelte weder Nick Dolan ein Interesse daran, seine Rolle in der Vorgeschichte zum besten zu geben, noch – erstaunlicherweise – Fiona. Nachdem bekannt geworden war, daß es sich bei dem irren Hünen um ihren Ex-Lover Tibor T. (23) handelte, war sie zwar mit Interviewanfragen bestürmt worden, und ihr Management hatte auch Termine gewährt. Doch mit jenem »Alsterdrama« (HEZ) wollte Fiona denn wohl doch lieber nicht in Verbindung gebracht werden, und so schwänzte sie ihre Verpflichtungen. (Und ihr Management feuerte sie.)
Der Akt des »Irren vom Kiez«, des »Satans«, der »Bestie« war als solcher zu großartig, zu wild und mutwillig, als daß ein Motiv dafür hätte mithalten können – im Gegenteil, es hätte den sexygruseligen Rotlicht-Samurai-Appeal der Lächerlichkeit preisgegeben. Und da Dagmars Video ja erst im Internet auftauchte, als in der old-school- Öffentlichkeit schon reichlich Gras über die Sache gewachsen war, blieb Onnos Existenz überwiegend anonym. Fotos von ihm mit Zauselbart und Baskenmütze gab es nicht. Für Presse und Polizei war er hauptsächlich eine unter fünfunddreißig Geiseln, für die Internetidioten tot.
»Warum«, knurrte Raimund, seine eigene Dummheit bereits persiflierend – aber ausgesprochen haben wollte er’s halt doch –, »warum hattest du ihm nicht einfach den Dolch ins Herz gerammt?!«
»Öff, öff«, sagte Onno.
»Warum«, knurrte ich zu anderer Gelegenheit – Monate später, Monate später –, »warum hast du ihn eigentlich verraten?«
Und Onno, wie aus der Pistole geschossen, sagte: »Hab ich das?« Für seine Verhältnisse geradezu erschrocken schaute er mich mit seinen Haselnußaugen an, und ich wußte mir nicht anders zu helfen, als mit verkrampftem Keckern eine Ironie vorzuspiegeln, die vollkommen bodenlos gewesen wäre, wäre sie nicht ohnehin nur vorgespiegelt gewesen.
Im Alsterpark, direkt neben dem offiziell ›Bürgermeisterweg‹ geheißenen Spazierpfad um die Außenalster – nur ein paar Schritte entfernt vom Zugangssteg des Atlantic-Anlegers –, steht eine beinhelle Plastik. Dieses Werk des Künstlers Max Bill hat sich zum Treffpunkt der städtischen Gruftis entwickelt, weil banausisch umdefiniert zur Maske aus dem Hollywoodfilm Scream (die sich wiederum einer Kreuzung aus Totenkopf und Munchs Der Schrei verdankt).
Dort spielt sich eine kurze Szene ab, die Teil eines Filmberichts aus der Spätausgabe des Tagesechos vom 28. Oktober desselben Jahres ist (eines sehr warmen Oktobertags). Im Hintergrund hat sich um jenes Kunstwerk herum eine halbe Busfracht junger Menschen zusammengerottet; gekleidet, geschminkt, frisiert und lackiert vorwiegend in Schwarz. Gehröcke, Tüllkleider, Lederminis zu Netzstrümpfen, breite Gürtel mit dicken Schnallen, die alchemistische Symbole darstellen, Fingernägel, Lippen – alles schwarz. Kombiniert mit nachtblauen Rüschenhemden, Korsagen aus bordeauxrotem Brokat und
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