Opas Eisberg: Auf Spurensuche durch Grönland (German Edition)
Der Horizont ist oft kaum zu erkennen, zu allem Überfluss beschlägt auch das Fernrohr immer wieder.
Einfacher ist dagegen das Messen der Schneetiefe mit einer dreieinhalb Meter langen Sondierstange aus Bambus mit Metallspitze: Wie viele Zentimeter sind Pulverschnee, wie viel harter Firn, in welcher Tiefe stößt er auf undurchdringliches Eis? Jeden Tag zeichnet er ein neues Profil der von oben unsichtbaren Unterschiede im Boden.
Hoessly ist derweil hauptsächlich mit den Hunden beschäftigt. Über Nacht haben immer ein paar ihre Zugriemen zerbissen, es ist die pure Sisyphosarbeit, ständig ihre Geschirre zu flicken. Ähnlich eintönig sind seine Pflichten als Arzt: Immer wieder muss er Nasen und Lippen seiner Mitstreiter versorgen. Weder die Gletschersalben Glacialin und Zeozon noch die inzwischen wild sprießenden Bärte können gänzlich verhindern, dass Sonne und Kälte der Haut stark zusetzen.
Gaules Aufgabe besteht darin, die Abweichung der Kompassnadel auszurechnen – weil der magnetische Nordpol nicht dem geografischen Nordpol entspricht, ist die Richtungsangabe nicht zuverlässig. Außerdem ermittelt er per Sextant die astronomische Position, oft zusammen mit de Quervain. Nur so kann die Gruppe die genaue Richtung für die nächste Etappe festlegen. Auf einer Karte trägt der Expeditionsleiter dann die Längen- und Breitengrade des Lagers ein. »Wie viel hundert Kompasspeilungen, wie viel tausend saure Schritte gehörten dazu, um uns auf der Karte nur ein kleines Schrittchen in der Richtung nach Südosten vorrücken zu lassen. Aber die kleinen Schritte fügten sich mehr und mehr zu einer zielbewusst fortschreitenden Linie!«, schreibt de Quervain.
Sicher denkt er manchmal an die andere Karte, die von der Ostküste. Kurz vor der Abreise hat er in Kopenhagen noch den Dänen Gustav Frederik Holm getroffen, der zwischen 1883 und 1885 auf seiner »Frauenboot-Expedition« Teile der grönländischen Ostküste kartografiert hatte. Der gab zu, dass er die Region, wo nun das Depot sein sollte, damals gar nicht besucht habe. Die Karte sei nur aus großer Ferne und nach Angaben von Inuit angefertigt worden. Leider war sie dennoch die einzige, die von diesen Fjorden existierte. Zwei Inseln namens Kekertatsuatsiak und Umitajarajuit dienen als Hauptorientierungspunkte, de Quervain fragte, ob die denn wenigstens auf jeden Fall existierten. »Vielleicht, aber möglicherweise auch nicht«, war Holms Antwort. Zum Abschied sagte er noch einmal: »Verlassen Sie sich ja nicht auf die Karte! Bauen Sie nicht auf die Karte!«
Kurz vor Mittag wird normalerweise das graugrüne Zelt abgebaut. Die Materialkisten kommen auf die Schlitten, die Pemmikan-Tagesration für die Hunde verstauen die Männer ebenfalls griffbereit. Die Zeltstangen aus Bambus haben eine Doppelfunktion, sie werden nun als Skistöcke benutzt.
De Quervain läuft auf Skiern voran, die drei anderen folgen mit ihren Hundegespannen, 108 Pfoten drücken auf jedem Meter ihren Abdruck in den Schnee. Die Männer tragen unterwegs zwei oder drei Wollschichten, die obere aus feinem Bündner Loden, darüber eine Weste, einen dicken Sweater und eine Inuit-Tuchjacke mit Eiderdaunenfüllung. Die Hose ist ebenfalls aus Tuch, die grönländischen Fellhosen sind für unterwegs zu warm. Handschuhe aus Wolle und darüber Fäustlinge aus Fell oder Leder schützen die Finger vor Erfrierungen, an den Füßen tragen die Männer normalerweise genagelte Lauparschuhe aus Norwegen, darin mehrere Sockenschichten und eine Isolierlage aus Stroh oder Seegras. In den Pausen greifen sie auf die Kamiker der Einheimischen zurück, kniehohe doppelte Pelzstiefel, außen Seehund, innen Hundefell.
Sie tragen Sonnenbrillen mit fast schwarzen oder mit gelben Gläsern, die die Umgebung kaum abdunkeln, aber trotzdem für Schutz vor ultravioletten Strahlen sorgen. Roderich und Gaule verstauen manchmal Schmelzgefäße aus Kupfer unter ihren Jacken, die sie mit Schnee füllen, der durch die Körperwärme unterwegs auftaut. Gratistrinkwasser sozusagen, kein Kocherbenzin muss dafür verbraucht werden.
Zwischen fünf und sieben Stunden dauern normalerweise die Etappen, die de Quervain mit dem Kommando »Zeltplatz« beendet. Noch bevor die Hunde abgespannt werden, werden sie gefüttert. Die Kunst dabei ist, allen drei Gespannen exakt gleichzeitig ihre Pemmikan-Ration hinzuschmeißen, weil sonst blutiger Streit ums Essen und verhedderte Zugleinen garantiert sind. Wenn alle Schlittenführer bereit sind, gibt
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