Opas Eisberg: Auf Spurensuche durch Grönland (German Edition)
man später alles direkt wiederfindet, liegt falsch. Pulkaschlitten scheinen über geheime Zauberkräfte zu verfügen, die dafür sorgen, dass unterwegs die Ladung neu verteilt wird. Vor allem die Thermoskanne wandert mit Vorliebe in die Ecken, die ich unterwegs nur nach einiger Wühlerei erreiche. Anders als de Quervain erlebe ich nicht die ordentlichste Phase meines Lebens, seit ich auf dem Inlandeis bin.
Wir sind zurückgeworfen in den Zustand von Neugeborenen. Hauptsache essen, schlafen, gesund sein, nicht frieren und keine Komplikationen bei der Verdauung. Weitere Bedürfnisse sind nicht mehr so wichtig. Für die letzteren beiden habe ich meinen lustigsten Ausrüstungsgegenstand dabei. Der hört auf den Namen Uribag und ist in zusammengefaltetem Zustand so groß wie eine Filmdose. Das tragbare Urinal dient dazu, dass man in eiskalten Nächten keinesfalls den Schlafsack verlassen muss, bislang habe ich es aber noch nicht gebraucht (beim Kauf bildete ich mir ein, dass die Apothekerin mich ein wenig komisch ansah. »Ist für meinen Opa«, habe ich gesagt).
Wir laufen nun immer etwa 15 bis 18 Kilometer am Tag, einer hinter dem anderen. Bei jeder Pause wird an der Spitze gewechselt. Wer vorangeht, kriegt das GPS-Gerät auf den Unterarm gebunden und muss darauf achten, dass der Pfeil darauf immer genau geradeaus zeigt.
Wir sind komplett von flachem Eis umgeben, kein Baum oder Strauch hilft bei der Orientierung. Nur vereinzelt zeichnen sich Schattenlinien im Boden ab, die man fixiert, um nicht alle fünf Meter auf den Unterarm gucken zu müssen. Die Linien sind verwirrend, ähneln sich fatal, welche war doch gleich die richtige? Nach einer halben Stunde im Schattenkabinett beginne ich, mir eine Linie auf dem Boden einzubilden, die genau geradeaus führt, manchmal ist sie schwarz, manchmal gelb, spätestens nach einer Stunde flimmert es vor den Augen. Geradeaus zu gehen ist gar nicht so leicht, ich scheine einen natürlichen Linksdrall zu haben. Das geht übrigens den meisten Menschen so, weil sie laut wissenschaftlichen Erkenntnissen ein wenig stärker mit dem rechten Fuß ausschreiten. Deshalb sind Drehtüren und Leichtathletikstadien so angelegt, dass man eine Linkskurve läuft.
Unser Ziel ist unsichtbar, eine Koordinate auf dem Display, eine Null bei der Kilometerangabe. Nur der Vorausgehende weiß dank GPS, wie weit wir gekommen sind und wie weit es noch ist. Zur Motivation haben wir eingeführt, dass er volle Kilometerzahlen mit dem Skistock neben die Spur schreibt, damit auch die Nachkommenden Bescheid wissen. Noch zwölf. Elf. Sechs. Zwei. Camp.
Schön wäre es jetzt, einfach in einen warmen Schlafsack zu kriechen und einzuschlafen. Pustekuchen, erst müssen wir eine Schneemauer bauen, um die Zelte vor dem Wind zu schützen. Das dauert meist eine Stunde. Mit Säge und Schaufeln trotzen wir dem Boden einen Eisquader nach dem anderen ab.
Jeden Abend entsteht so ein architektonisches Kunstwerk, etwa acht Meter breit und einen Meter hoch. Weniger Mühe geben wir uns mit der Klomauer. Hauptsache, sie hält. Sie dient nicht der Privatsphäre, sondern allein als Sturmschutzwall. »Sich den Arsch abfrieren« klingt lustiger, als es ist.
Ich mache von jedem ein Porträtfoto, auch ein tägliches Ritual, später wollen wir damit im Zeitraffer dokumentieren, wie uns der Aufenthalt in der Arktis verändert. Wilfried baut seine Messinstrumente auf. Für seine Eishöhenmessung stellt er seinen GPS-Empfänger auf ein Stativ, der dann die ganze Nacht über Satelliten anpeilt und so von Stunde zu Stunde ein präziseres Messergebnis liefern kann. Am Morgen hat er einen zentimetergenauen Wert. »Im Vergleich zu einer Theodolitmessung ist das pillepalle, was ich hier mache«, sagt er einmal.
Wir bauen die zwei Schlafzelte und das Kochzelt auf. Vier Leute, drei Zelte, echter Campingluxus.
Als Amuse-Gueule wird eine Vitamintablette gereicht, danach pulvrige Tomatensuppe mit Croutons. Ein Highlight sind die Salami-Enden dazu, weil sie besser schmecken als jede Mahlzeit, die aus einer silbernen Tüte kommt und durch Zugabe von warmem Wasser entsteht. Davon haben wir zehn Geschmacksrichtungen dabei, heute gibt es Beef-Stroganoff-Imitat. Zum krönenden Abschluss Mousse au Chocolat als Nachtisch. Dann als Absacker einen Kamillentee mit einem Schuss »Sonstiges«: Strohrum mit Honig, Mischverhältnis halb und halb. 4500 Kalorien pro Tag sollten es schon sein, mehr als das Doppelte der üblichen Ration.
Die Gespräche beim Essen
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