Opas Eisberg: Auf Spurensuche durch Grönland (German Edition)
hinten ist wie vorne, kein Anhaltspunkt hilft dabei, Distanzen einzuschätzen: Der weiteste sichtbare Punkt könnte fünf oder 50 Kilometer entfernt sein. Jeder Schritt führt vorwärts, ohne dass die Augen ein Vorwärts wahrnehmen können, wie auf einem Laufband im Fitnessstudio. Mit jedem Meter, den wir gehen, weicht die Horizontlinie einen Meter zurück. Das stört uns momentan aber nicht, denn endlich geht es voran, endlich müssen wir nicht mehr im Zickzack laufen und ständig Hindernissen ausweichen. Das GPS-Gerät am Unterarm zeigt, wie schnell wir sind: Mit vier bis fünf Stundenkilometer geht es in Richtung Westen, in Richtung nächstes Camp.
Wir laufen jetzt in einer engen Viererreihe, wie ein gut trainiertes Rennradteam. Wie ein Pulkawurm mit vier Köpfen, der über das Eis zieht. Jeder hat einen etwas anderen Laufstil. Wilfried ausladend und kraftvoll, Gregor athletisch mit schmalerem Stockeinsatz, Jan mit nach vorne gebeugtem Kopf und kleinen, schnellen Schritten. Das Gehtempo macht mir keine Schwierigkeiten.
Ich stelle mir vor, wie wir aus der Vogelperspektive aussehen, mit dem Fernglas aus dem Fenster eines der Interkontinentalflugzeuge: viermal Punkt und Strich auf einem gigantischen Blatt Papier, vier ganz kleine Ausrufezeichen.
»Nach zehn Tagen auf dem Inlandeis bist du entweder verrückt oder süchtig«, hat Robert Peroni vor unserem Aufbruch in Tasiilaq gesagt. Wir sind jetzt seit zehn Tagen unterwegs. Ich blicke in meinen Schatten schräg rechts vor mir, meine Schirmmütze zeichnet sich deutlich ab. Mein Opa hatte auf vielen Grönlandfotos eine ganz ähnliche Schirmmütze an. Ich stelle mir seinen Kopf in meinem Schatten vor. Er guckt zu mir hoch und fragt, ob es mir gefällt. Tatsache, ich werde wahnsinnig. Und ja, es gefällt mir, extrem sogar. Ich kann mich nicht satt sehen an der ödesten Landschaft der Erde. Ich bin verrückt
und
süchtig geworden.
Ganz ohne Halt fürs Auge ist die Umgebung bei genauerem Hinsehen nicht. Ich vertreibe mir wieder die Zeit damit, mir Namen für die verschiedenen Arten des Untergrundes zu überlegen: Da gibt es Terrassenfelder-Schnee, der wurde vom Wind so geschichtet wie asiatische Reisfelder, und Crème-brûlée-Schnee – die gefrorene Oberfläche knackt bei Skikontakt, darunter ist weicher Sulz. Und Trockenzeit-Schnee, der hat so Risse zwischen flachen Inseln, wie man sie von Fotos aus afrikanischen Dürreregionen kennt, in denen es seit Monaten nicht geregnet hat.
Wenn äußere Eindrücke fehlen, gehen die Gedanken nach innen. Erinnerungen steigen hoch. An Freunde, längst vergangene Episoden, Familienurlaube in der Kindheit. Und an Gerüche, zum Beispiel von ganz konkreten Speisen wie dem Zürcher Geschnetzelten aus der Betriebskantine.
Ich denke darüber nach, dass die beste Frage, die man einem älteren Menschen stellen kann, doch eigentlich folgende ist: »Was hast du gemacht, als du so alt warst wie ich?«
Es ist auch möglich, an gar nichts zu denken. Ein dumpfer Nebel im Kopf, ein mentaler Whiteout, der dazu führt, dass nur noch die eigene Bewegung existiert, keine Reflexion darüber
hinaus. Ich habe vor meiner Abreise mit Arved Fuchs gesprochen, dem bekanntesten deutschen Polarreisenden, und seine wichtigste Empfehlung war: »Nehmen Sie sich ein paar gute Gedanken mit!« Er selbst hat auf einer Antarktis-Expedition mal den kompletten Umbau seines Schiffes geplant, der »Dagmar Aaen«, mit der er nun durch kalte Meere segelt. Ich verstehe jetzt, was er meinte: Die Dumpfheit im Kopf ist eine Falle, erst verlockend und befreiend, aber auf Dauer sorgt sie nur dafür, dass jeder Tag dem vorigen gleicht und das Gehen nur noch ein Abstottern von Stunden und Kilometern ist.
Wir sind jetzt genau auf der Route von 1912. Ich stelle mir vor, wie uns drei Hundeschlitten entgegenkommen, auf einem hockt mein Opa und treibt die Tiere mit seiner Peitsche an. 70 oder 80 Meter unter uns sind vermutlich noch irgendwo Tatzenspuren im Eis, festgefroren im nächsten Winter. Und Hundekot. Und menschliche Exkremente. Die DNA von meinem Großvater, irgendwo direkt unter uns. Würde man mit einem Metalldetektor herkommen, könnte man rostige leere Konservendosen finden.
Die einzigen Geräusche sind der Wind, das helle Kratzen der Skier und das etwas dumpfere Schleifen des Pulkas. Ich komme zu dem Schluss, dass der Pulkaton genau eine Oktave unter dem Skiton liegt, der Wind eine kleine Terz über dem Grundton. Der Sound der Arktis, ein sauberer Mollakkord.
Nach ein
Weitere Kostenlose Bücher