Opas Eisberg: Auf Spurensuche durch Grönland (German Edition)
paar Stunden habe ich genug gelauscht, deshalb tue ich etwas, was ich sonst nie in der Natur mache: Musik hören. In dieser Kargheit der Reize wirkt sie viel intensiver als in der zivilisierten Welt, wo sie nur einer von Tausenden verschiedenen akustischen Eindrücken eines Tages ist.
Übrigens passt nicht jeder Song. Der perfekte Arktis-Eiswanderhit ist rockig, treibend, aber auch melodisch. Außerdem muss er ein gutes Tempo zum Laufen haben. Meine Favoriten: »Today« von den Smashing Pumpkins und »Undone – the Sweater Song« von Weezer. Wenn die verzerrten Gitarren einsetzen, laufen die Skier wie von selbst, trotz Schmerzen in Füßen und Armen und trotz Erschöpfung.
Wir gehen vier oder fünf Etappen pro Tag, und jede davon ist anders. Wer einwendet, die Bewegung sei doch immer die gleiche, hat noch nie erlebt, wie stark die menschliche Wahrnehmung sich an Nuancen klammert, wenn sie auf Diät gesetzt wurde. Vier Etappen sind wie vier verschiedene Sportarten. Bei der ersten brauche ich immer ein paar Minuten, bis die Beine ihren Dauerlaufrhythmus gefunden haben, dann ist sie purer Genuss: Der Schnee ist morgens am besten, ich bin froh, dass das nervige Packen ein Ende hat. Die Gedanken schweifen in die Ferne, durch echte und erfundene Welten, der Geist ist völlig klar.
Nach fünf Kilometern kommen gewöhnlich fünf Minuten Rast mit einem ersten Energieriegel namens Fruchtriese oder Genussbombe, beides ist übertrieben. Wilfried ist immer für die Statistik zuständig, gelaufene Kilometer und Durchschnittstempo. Fünf Stundenkilometer ist gut, vier durchschnittlich, drei schlapp, zumindest auf spaltenfreiem Untergrund.
Etwas passiert in dieser ersten Pause, danach bin ich ein anderer Mensch, verwandelt in einen Faulpelz, der die nächste Pause herbeisehnt, träge in Beinen und Kopf. Zum Glück kommt danach die dritte, die Musikhör-Etappe. Der MP3-Player ist ein Himmelsgeschenk, schon morgens weiß ich, dass die dritte Etappe gut wird. Kopf abschalten und nur noch lauschen, die Klänge aus den Kopfhörern, die unter der Sturmhaube versteckt sind, bedeuten die einzige Wahrnehmung, die ich ganz für mich allein habe und mit niemandem teilen muss. Ein Konzert nur für mich, Rückzug zu mir selbst, Alleingang statt Mannschaftssport. Fast spüre ich nicht, dass der Schnee ab dem Mittag sulziger wird, dass die Skier mühsamer laufen und bei jedem Schritt tiefer einsinken. Manchmal ertappe ich mich dabei, wie ich mit den Stöcken den Schlagzeugrhythmus in den Eisboden hämmere.
Die vierte Etappe beginnt noch mit etwas Restschwung, weil irgendein Song hängen bleibt im Kopf, doch schon bald beginnt der Kampf. Ich spüre meine Kräfte nachlassen, wie da nichts mehr ist, was sich noch mobilisieren ließe. Wie viele Schritte sind ein Kilometer? 1000? 1500? Warum sind zwei Kilometer beim Joggen ein Klacks und hier draußen eine Ewigkeit? Vielleicht liegt der Grund darin, dass der Mensch auf dem Inlandeis kleiner ist als anderswo. Je näher man dem Tagesziel kommt, desto mehr sehnt man es herbei.
Einen wesentlichen Unterschied macht noch aus, ob ich vorne laufe oder nicht. Wir wechseln uns weiterhin ab, jeder führt täglich mindestens einmal. Das ist etwas anstrengender, weil man spuren muss und sich darauf konzentriert, keine zu großen Kurven zu fabrizieren. Und gleichzeitig viel leichter, als den anderen zu folgen, weil es eine herrliche Gewissheit ist, der erste Mensch zu sein, der an exakt dieser Stelle eine Spur hinterlässt.
Plötzlich sind rechts von uns Berge zu sehen: Eine Kette von Schneegipfeln und imposanten Zacken. Sie wirkt ganz nah, ist aber mehr als 100 Kilometer entfernt.
Die ersten Menschen, die diese Aussicht genossen, hießen Alfred de Quervain, Hans Hoessly, Karl Gaule und Roderich Fick. Die vier Männer gaben dem Gebirgszug den Namen, der bis heute auf jeder Karte so verzeichnet ist: Schweizerland. Warum »Land«, warum nicht »Berge«? Sie müssen sich sehr nach festem Boden gesehnt haben, als sie hier ankamen.
Ansonsten passt der Name, soweit wir das von hier beurteilen können, ziemlich gut: Gleich zwei Bergpyramiden erinnern auffallend an das Matterhorn. Einer der höchsten Gipfel Grönlands steht dort, der Mont Forel, 3383 Meter hoch, ein wunderschöner, wenig bekannter Berg. Links, im Nordosten, geht das Gebirge über in eine hohe Eiswand, verschmilzt mit dem Inlandeis, das dort über 2000 Meter hoch ist. Ein Gebirge, das quasi aus dem Eis kommt, ein einmaliger Anblick. Auch dann, wenn
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