Oper und Drama
nicht wie man sie zuvor sich einbildete, zu begreifen und darzustellen ist fortan die Aufgabe nicht minder des Geschichtsschreibers als des Künstlers, der die Wirklichkeit des Lebens im gedrängten Bilde sich vorführen will – und Shakespeare war der unübertroffene Meister in dieser Kunst, die ihn die Gestalt seines Dramas erfinden ließ. –
Aber nicht im wirklichen Drama war, wie wir sahen, diese Wirklichkeit des Lebens künstlerisch darzustellen, sondern nur im schildernden, beschreibenden Romane, und zwar aus Gründen, über die uns diese Wirklichkeit einzig selbst belehren kann.
Der Mensch kann nur im Zusammenhange mit den Menschen überhaupt, mit seiner Umgebung, begriffen werden: losgelöst aus diesem mußte gerade der moderne Mensch als das Allerunbegreiflichste erscheinen. Der rastlose innere Zwiespalt dieses Menschen, der zwischen Wollen und Können sich ein Chaos von marternden Vorstellungen geschaffen hatte, die ihn zum Kampfe gegen sich selbst, zur Selbstzernagung und zum leiblosen Aufgehen in den christlichen Tod getrieben hatten – war nicht sowohl, wie das Christentum es versucht hatte, aus der Natur des individuellen Menschen selbst, als aus der Verirrung dieser Natur, in welche sie eine unverständnisvolle Anschauung des Wesens der Gesellschaft gebracht hatte, zu erklären. Jene peinigenden Vorstellungen, welche diese Anschauung trübten, mußten auf die ihnen zugrundeliegende Wirklichkeit zurückgeführt werden, und als diese Wirklichkeit hatte der Forscher den wahren Zustand der menschlichen Gesellschaft zu erkennen. Aber auch dieser Zustand, in welchem tausendfache Berechtigungen durch millionenfache Rechtlosigkeiten sich ernährten und der Mensch vom Menschen durch eingebildete, und nach der Einbildung verwirklichte, unübersteigbare Schranken getrennt war, konnte nicht aus sich selbst begriffen werden; er mußte aus den zu Rechten gewordenen Überlieferungen der Geschichte, aus dem tatsächlichen Inhalte und endlich aus dem Geiste der geschichtlichen Vorfälle, aus den Gesinnungen, die sie hervorriefen, erklärt werden.
Als solche geschichtliche Tatsachen häuften sich vor dem menschensuchenden Blicke des Forschers eine so ungeheure Masse berichteter Vorgänge und Handlungen, daß die überreiche Stoffülle des mittelalterlichen Romanes sich dagegen als nackte Armut darstellte. Und dennoch war diese Masse, die bei näherer Betrachtung sich zu immer vielgliedrigerer Verzweigung ausdehnte, von dem Forscher nach der Wirklichkeit der menschlichen Zustände bis in die weitesten Fernen zu durchdringen, um aus ihrem erdrückenden Wuste das Einzige, um das es sich solcher Mühe verlohnte, den wirklichen unentstellten Menschen nach der Wahrheit seiner Natur zu entdecken. Vor der unübersehbaren Fülle geschichtlicher Realitäten mußte der Einzelne für seinen Forschungseifer sich Grenzen stecken: er mußte aus einem größeren Zusammenhange, den er nur noch andeuten durfte, Momente losreißen, um an ihnen mit größerer Genauigkeit einen engeren Zusammenhang nachzuweisen, ohne welche jede geschichtliche Darstellung überhaupt unverständlich bleibt. Aber auch in den engsten Grenzen ist dieser Zusammenhang, aus dem eine geschichtliche Handlung einzig begreiflich ist, nur durch die umständlichste Vorführung einer Umgebung zu ermöglichen, für die wir irgendwelche Teilnahme wiederum nur empfinden können, wenn sie uns durch belebteste Schilderung zur Anschauung gebracht wird. Der Forscher mußte durch die gefühlte Notwendigkeit dieser Schilderung wieder zum Dichter werden: sein Verfahren konnte aber nur ein dem des dramatischen Dichters geradezu entgegengesetztes sein. Der dramatische Dichter drängt die Umgebung der handelnden Person zur leicht übersehbaren Darstellung zusammen, um die Handlung dieser Person, die er ihrem Inhalte wie ihrer Äußerung nach wiederum zu einer umfassenden Haupthandlung zusammendrängt, aus der wesenhaften Gesinnung des Individuums hervorgehen, in ihr diese Individualität sich zum Abschluß bringen zu lassen, und an ihr das Wesen des Menschen nach einer bestimmten Richtung hin überhaupt darzustellen.
Der Romandichter hingegen hat die Handlung der geschichtlichen Hauptperson aus der äußeren Notwendigkeit der Umgebung begreiflich zu machen: er hat, um den Eindruck geschichtlicher Wahrhaftigkeit auf uns zu bewirken, vor allem den Charakter dieser Umgebung zum Verständnisse zu bringen, weil in ihr alle die Anforderungen begründet liegen, die das
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