Oper und Drama
in derselben religiösen Naturanschauung, die einst den Urmythos erzeugt hatte.
Die dichterisch gestaltende Kraft dieser Völker war also ebenfalls eine religiöse, unbewußt gemeinsame, in der Uranschauung vom Wesen der Dinge wurzelnde. An diese Wurzel legte nun aber das Christentum die Hand: dem ungeheuren Reichtume der Zweige und Blätter des germanischen Volksbaumes vermochte der fromme Bekehrungseifer der Christen nicht beizukommen, aber die Wurzel suchte er auszurotten, mit der er in den Boden des Daseins gewachsen war. Den religiösen Glauben, die Grundanschauung vom Wesen der Natur, hob das Christentum auf und verdrängte ihn durch einen neuen Glauben, durch eine neue Anschauungsweise, die den alten schnurgerade entgegengesetzt waren. Vermochte es nun auch nie den alten Glauben vollständig auszurotten, so nahm es ihm doch wenigstens seine üppig zeugende künstlerische Kraft: was aber dieser Kraft bisher entwachsen war, die unermeßlich reich gestaltete Sage, dies blieb nun, als von dem Stamme und der Wurzel losgelöstes Geäst, die fortan aus ihrem Keime selbst ungenährte, das Volk selbst nur noch kümmerlich nährende Frucht. Wo zuvor in der religiösen Volksanschauung der einheitlich bindende Haft für alle noch so mannigfaltigen Gestaltungen der Sage gelegen hatte, konnte nun, nach Zertrümmerung dieses Haftes, nur noch ein loses Gewirr bunter Gestalten übrigbleiben, das halt- und bandlos in der nur noch unterhaltungssüchtigen, nicht mehr aber schöpferischen Phantasie herumschwirrte. Der zeugungsunfähig gewordene Mythos zersetzte sich in seine einzelnen, fertigen Bestandteile, seine Einheit in tausendfache Vielheit, der Kern seiner Handlung in ein Unmaß von Handlungen. Diese Handlungen, an sich nur Individualisierungen einer großen Urhandlung, gleichsam persönliche Variationen derselben , dem Wesen des Volkes als dessen Äußerung notwendigen, Handlung – wurden wiederum in der Weise zersplittert und entstellt, daß sie nach willkürlichem Belieben in ihren einzelnen Teilen wieder zusammengesetzt und verwendet werden konnten, um den rastlosen Trieb einer Phantasie zu nähren, die – innerlich gelähmt und der nach außen gestaltenden Fähigkeit beraubt – nur auch Äußerliches noch verschlingen, nicht Innerliches mehr von sich geben konnte. Die Zersplitterung und das Ersterben des deutschen Epos, wie es uns in den widerlichen Gestaltungen des »Heldenbuches« vorliegt, zeigt sich uns in einer ungeheuren Masse von Handlungen, die um so größer anschwillt, als jeder eigentliche Inhalt ihnen verlorengeht. –
Diesem Mythos, für den dem Volke durch die Annahme des Christentums alles wahre Verständnis seiner ursprünglichen, lebenvollen Beziehungen vollständig verlorenging, ward, als das Leben seines einheitvollen Leibes durch den Tod sich in das Vielleben von Myriaden märchenhafter Würmer aufgelöst hatte, die christlich-religiöse Anschauung wie zu neuer Belebung untergelegt. Diese Anschauung konnte nach ihrer innersten Eigentümlichkeit eigentlich nur diesen Tod des Mythos beleuchten und mit mystischer Verklärung ausschmücken: sie rechtfertigte seinen Tod gewissermaßen, indem sie all jene massenhaften und bunt sich durchkreuzenden Handlungen, die an sich nicht aus einer noch begriffenen und dem Volke eigenen Gesinnung erklärt und gerechtfertigt werden konnten, in ihrer launenhaften Willkür sich darstellte, und, da sie ihre rechtfertigenden Beweggründe nicht zu fassen vermochte, sie nach dem christlichen Tode, als dem erlösenden Ausgangspunkte hinleitete. Der christliche Ritterroman , der hierin den getreuen Ausdruck des mittelalterlichen Lebens gibt, beginnt mit dem viellebigen Leichenreste des alten Heldenmythos, mit einer Menge von Handlungen, deren wahre Gesinnung uns unbegreiflich und willkürlich erscheint, weil ihre Motive, die in einer ganz anderen als der christlichen Lebensanschauung beruhen, dem Dichter verlorengegangen sind: die Zwecklosigkeit und Unbefugtheit dieser Handlungen durch sich selbst darzustellen, und aus ihnen für das unwillkürliche Gefühl der Notwendigkeit des Unterganges der Handelnden – sei es durch aufrichtige Annahme der christlichen, zur Beschaulichkeit und Untätigkeit auffordernden Lebensregeln oder durch die äußerste Betätigung der christlichen Anschauung, den Märtyrertod selbst zu rechtfertigen –, dies war die natürliche Richtung und Aufgabe des geistlichen Rittergedichtes. –
Der ursprüngliche Handlungsstoff des heidnischen
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