Oper und Drama
Individuum bestimmen, so und gerade nicht anders zu handeln. Im geschichtlichen Roman suchen wir uns den Menschen begreiflich zu machen, den wir vom reinmenschlichen Standpunkte aus eben nicht verstehen können. Wenn wir uns die Handlung eines geschichtlichen Menschen nackt und bloß als rein menschliche vorstellen wollen, so muß sie uns höchst willkürlich, ungereimt und jedenfalls unnatürlich erscheinen, eben weil wir die Gesinnung dieser Handlung nicht aus der rein menschlichen Natur zu rechtfertigen vermögen. Die Gesinnung einer geschichtlichen Person ist die Gesinnung dieses Individuums aber nur insoweit, als sie aus einer gemeingültigen Ansicht vom Wesen der Dinge sich auf ihn überträgt; diese gemeingültige Ansicht, die eine reinmenschliche, jederzeit und an jedem Orte gültige nicht ist, findet ihre Erklärung aber nur wieder in einem rein geschichtlichen Verhältnisse, das sich im Laufe der Zeiten ändert und zu keiner Zeit dasselbe ist. Dieses Verhältnis und seinen Wechsel können wir uns aber wiederum nur erklären, wenn wir die ganze Kette geschichtlicher Vorfälle verfolgen, die in ihrem vielgliederigen Zusammenhange auf ein einfacheres Geschichtsverhältnis so wirkten, daß es gerade diese Gestalt annahm und gerade diese Gesinnung in ihr als gemeingültige Ansicht sich kundgab. Das Individuum, in dessen Handlung diese Gesinnung sich nun äußern soll, muß daher, um seine Gesinnung und Handlung uns begreiflich zu machen, auf das allermindeste Maß individueller Freiheit herabgedrückt werden: seine Gesinnung, soll sie erklärt werden, ist nur aus der Gesinnung seiner Umgebung zu rechtfertigen, und diese wiederum kann sich uns nur in Handlungen deutlich machen, die um so mehr den vollen Raum der künstlerischen Darstellung zu erfüllen haben, als auch die Umgebung nur in vielgliedrigster Verzweigung und Ausdehnung uns verständlich wird.
So kann der Romandichter sich fast lediglich nur mit der Schilderung der Umgebung beschäftigen, und um verständlich zu werden, muß er umständlich sein. Was der Dramatiker für das Verständnis der Umgebung voraussetzt, darauf hat der Romandichter sein ganzes Darstellungsvermögen zu verwenden; die gemeingültige Anschauung, auf die der Dramatiker von vornherein fußt, hat der Romandichter im Laufe seiner Darstellung erst künstlich zu entwickeln und festzustellen. Das Drama geht daher von innen nach außen, der Roman von außen nach innen. Aus einer einfachen, allverständlichen Umgebung erhebt sich der Dramatiker zur immer reicheren Entwickelung der Individualität; aus einer vielfachen, mühsam verständlichten Umgebung sinkt der Romandichter erschöpft zur Schilderung des Individuums herab, das, an sich ärmlich, nur durch jene Umgebung individuell auszustatten war. Im Drama bereichert eine vollständig aus sich entwickelte kernige Individualität die Umgebung; im Roman ernährt die Umgebung den Heißhunger einer leeren Individualität. So deckt uns das Drama den Organismus der Menschheit auf, indem die Individualität sich als Wesen der Gattung darstellt; der Roman aber stellt den Mechanismus der Geschichte dar, nach welchem die Gattung zum Wesen der Individualität gemacht wird. Und so ist auch das Kunstschaffen im Drama ein organisches , im Roman ein mechanisches ; denn das Drama gibt uns den Menschen , der Roman erklärt uns den Staatsbürger ; jenes zeigt uns die Fülle der menschlichen Natur, dieser entschuldigt ihre Dürftigkeit aus dem Staat: das Drama gestaltet sonach aus innerer Notwendigkeit, der Roman aus äußerlichem Zwange. –
Aber der Roman war kein willkürliches, sondern ein notwendiges Erzeugnis unseres modernen Entwickelungsganges: er gab den redlichen künstlerischen Ausdruck von Lebenszuständen, die künstlerisch nur durch ihn, nicht durch das Drama darzustellen waren. Der Roman ging auf Darstellung der Wirklichkeit aus, und sein Bemühen war so echt, daß er vor dieser Wirklichkeit sich als Kunstwerk endlich selbst vernichtete.
Seine höchste Blüte als Kunstform erreichte der Roman, als er vom Standpunkte rein künstlerischer Notwendigkeit aus das Verfahren des Mythos in der Bildung von Typen sich zu eigen machte. Wie der mittelalterliche Roman mannigfaltige Erscheinungen fremder Völker, Länder und Klimaten zu verdichteten, wunderhaften Gestalten zusammendrängte, so suchte der neuere historische Roman die mannigfaltigsten Äußerungen des Geistes ganzer Geschichtsperioden als Kundgebungen des Wesens eines besonderen
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