Oper und Drama
geschichtlichen Individuums darzustellen. Hierin konnte den Romandichter die übliche Art der Geschichtsanschauung nur unterstützen. Um das Übermaß geschichtlicher Tatsachen vor unserem Blicke übersichtlich zu ordnen, pflegen wir gemeinhin nur die hervorragendsten Persönlichkeiten zu beachten, und in ihnen den Geist einer Periode als verkörpert anzusehen. Als solche Persönlichkeiten hat uns die chronistische Geschichtskunde meist nur die Herrscher überliefert, sie, aus deren Willen und Anordnung geschichtliche Unternehmungen und staatliche Einrichtungen hervorgingen. Die unklare Gesinnung und widerspruchvolle Handlungsweise dieser Häupter, vor allem aber auch der Umstand, daß sie ihre angestrebten Zwecke in Wirklichkeit nie erreichten, hat uns zunächst den Geist der Geschichte dahin mißverstehen lassen, daß wir die Willkür in den Handlungen der Herrschenden aus höheren, unerforschlichen, den Gang und das Ziel der Geschichte lenkenden und vorausbestimmenden Einflüssen erklären zu müssen glaubten. Jene Faktoren der Geschichte schienen uns willenlose, oder in ihrem Willen sich selbst widersprechende Werkzeuge in den Händen einer außermenschlichen, göttlichen Macht. Die endlichen Ergebnisse der Geschichte setzten wir für den Grund ihrer Bewegung, oder für das Ziel, dem ein höherer Geist in ihr vom Beginn herein mit Bewußtsein zugestrebt hätte. Aus dieser Ansicht glaubten die Ausleger und Darsteller der Geschichte sich nun auch berechtigt, die willkürlich erscheinenden Handlungen der herrschenden Hauptpersonen der Geschichte aus Gesinnungen, in denen sich das untergelegte Bewußtsein eines leitenden Weltgeistes spiegelte, herzuleiten: somit zerstörten sie die unbewußte Notwendigkeit ihrer Handlungsmotive, und als sie ihre Handlungen vollkommen gerechtfertigt wähnten, stellten sie sie erst als vollständig willkürlich dar. – Durch dieses Verfahren, bei welchem die geschichtlichen Handlungen durch willkürliche Kombination verändert und entstellt werden durften, gelang es dem Romane, einzig Typen zu erfinden und als Kunstwerk sich zu einer gewissen Höhe zu schwingen, auf welcher er von neuem zur Dramatisierung geeignet erscheinen mochte. Die neueste Zeit hat viel solcher historischen Dramen geliefert, und die Freude am Geschichtemachen zugunsten der dramatischen Form ist gegenwärtig noch so groß, daß unsere kunstfertigen historischen Theatertaschenspieler das Geheimnis der Geschichte selbst zum Vorteil der Bühnenstückmacherei sich erschlossen wähnen. Sie glauben sich um so gerechtfertigter in ihrem Verfahren, als sie es selbst ermöglicht haben, die vollendetste Einheit von Ort und Zeit der dramatischen Darstellung der Historie aufzulegen: sie sind in das Innerste des ganzen Geschichtsmechanismus eingedrungen, und haben als sein Herz das Vorzimmer des Fürsten aufgefunden, in welchem zwischen Lever und Souper Mensch und Staat sich gegenseitig in Ordnung bringen. Daß aber sowohl diese künstlerische Einheit wie diese Historie erlogen sind, etwas Unwahres aber auch nur von erlogener Wirkung sein kann, das hat sich am heutigen historischen Drama deutlich herausgestellt. Daß die wahre Geschichte kein Stoff für das Drama ist, das wissen wir nun aber auch, da dieses historische Drama uns deutlich gemacht hat, daß selbst der Roman nur durch Versündigung an der Wahrheit der Geschichte sich zu der ihm erreichbarsten Höhe als Kunstform aufschwingen konnte.
Von dieser Höhe ist nun der Roman wieder herabgestiegen, um, mit Aufgebung der von ihm erzielten Reinheit als Kunstwerk, zur treuen Darstellung des geschichtlichen Lebens sich anzulassen.
Die scheinbare Willkür in den Handlungen geschichtlicher Hauptpersonen konnte zur Ehre der Menschheit nur dadurch erklärt werden, daß der Boden aufgefunden wurde, aus dem auch sie als notwendig und unwillkürlich hervorwuchsen. Hatte man diese Notwendigkeit zuvor in der Höhe , über den geschichtlichen Hauptpersonen schwebend, und sie nach transzendenter Weisheit als Werkzeuge verbrauchend, sich vorstellen zu müssen geglaubt, und war man endlich von der künstlerischen wie wissenschaftlichen Unfruchtbarkeit dieser Anschauung überzeugt worden, so suchten Denker und Dichter nun diese erklärende Notwendigkeit in der Tiefe , in der Grundlage aller Geschichte, aufzufinden. Der Boden der Geschichte ist die soziale Natur des Menschen : aus dem Bedürfnisse des Individuums, sich mit den Wesen seiner Gattung zu vereinigen, um in der Gesellschaft
Weitere Kostenlose Bücher