Oper und Drama
Mythos hatte sich aber bereits auch zur ausschweifendsten Mannigfaltigkeit durch die Mischung aller nationalen, ähnlich dem germanischen von ihrer Wurzel abgelösten, Sagenstoffe bereichert. Durch das Christentum waren alle Völker, die sich zu ihm bekannten, von dem Boden ihrer natürlichen Anschauungsweise losgerissen und die ihr entsprossenen Dichtungen zu Gaukelbildern für die fessellose Phantasie umgeschaffen worden. In den Kreuzzügen hatte Abend- und Morgenland bei massenhafter Berührung diese Stoffe ausgetauscht und ihre Vielartigkeit bis in das Ungeheure ausgedehnt. Begriff früher im Mythos das Volk nur das Heimische , so suchte es jetzt, wo ihm das Verständnis des Heimischen verlorengegangen war, Ersatz durch immer neues Fremdartiges . Mit Heißhunger verschlang es alles Ausländische und Ungewohnte: seine nahrungswütige Phantasie erschöpfte alle Möglichkeiten der menschlichen Einbildungskraft, um sie in unerhört bunten Abenteuern zu verprassen. – Diesen Trieb vermochte die christliche Anschauung endlich nicht mehr zu lenken, obschon sie ihn selbst im Grunde erzeugt hatte, da er ursprünglich nichts anderes war als der Drang, vor der unverstandenen Wirklichkeit zu fliehen, um in einer eingebildeten Welt sich zu befriedigen. Diese eingebildete Welt mußte, bei noch so großer Ausschweifung der Phantasie, ihr Urbild aber doch immer nur den Erscheinungen der wirklichen Welt entnehmen: die Einbildungskraft konnte endlich wieder nur wie im Mythos verfahren: sie drängte alle ihr begreiflichen Realitäten der wirklichen Welt zu gedichteten Bildern zusammen, in denen sie das Wesen von Totalitären individualisierte und dadurch sie zu ungeheuerlichen Wundern ausstattete. Auch dieser Drang der Phantasie ging in Wahrheit, wie im Mythos, wiederum nur zur Auffindung der Wirklichkeit, und zwar der Wirklichkeit einer ungeheuer ausgedehnten Außenwelt hin, und seine Betätigung in diesem Sinne blieb nicht aus. Der Drang nach Abenteuern, in denen man das Phantasiebild sich zu verwirklichen sehnte, verdichtete sich endlich zum Drange nach Unternehmungen, in denen, nach tausendfältig erfahrener Fruchtlosigkeit des Abenteuers, das ersehnte Ziel der Erkennung der Außenwelt, im Genusse der Frucht wirklicher Erfahrungen, mit ernstem, auf die bestimmte Erreichung gerichtetem Eifer aufgesucht wurde. Kühne, in bewußter Absicht unternommene Entdeckungsreisen und tiefe, auf ihre Ergebnisse begründete Forschungen der Wissenschaft enthüllten uns endlich die Welt, wie sie in Wirklichkeit ist. – Durch diese Erkenntnis ward der Roman des Mittelalters vernichtet, und der Schilderung eingebildeter Erscheinungen folgte die Schilderung ihrer Wirklichkeit.
Diese Wirklichkeit war aber nur in den, für unsere Tätigkeit unnahbaren, Erscheinungen der Natur eine von unseren Irrtümern unberührte, unentstellte geblieben. An der Wirklichkeit des menschlichen Lebens hafteten unsere Irrtümer aber mit dem entstellendsten Zwange. Auch sie zu überwinden, und das Leben des Menschen nach der Notwendigkeit seiner individuellen und sozialen Natur zu erkennen und endlich, weil es in unserer Macht steht, zu gestalten , das ist der Trieb der Menschheit seit der nach außen von ihr errungenen Fähigkeit, die Erscheinungen der Natur in ihrem Wesen zu erkennen; denn aus dieser Erkenntnis haben wir das Maß für die Erkenntnis auch des Wesens des Menschen gewonnen.
Die christliche Anschauung, die den Drang der Menschen nach außen unwillkürlich erzeugt hatte, aus sich aber ihn weder ernähren noch lenken konnte, hatte sich dieser Erscheinung gegenüber in sich selbst zum starren Dogma zusammengezogen, gleichsam um vor der ihr unbegreiflichen Erscheinung sich selbst zu retten. Hier bekundete sich nun die eigentliche Schwäche und widerspruchvolle Natur dieser Anschauung. Das wirkliche Leben und der Grund seiner Erscheinungen war ihr von je etwas Unbegreifliches gewesen. Den Zwiespalt zwischen dem Gesetzesstaat und der Unwillkür des individuellen Menschen hatte sie um so weniger überwinden können, als in ihm einzig ihr Ursprung und Wesen wurzelte: war der individuelle Mensch vollkommen mit der Gesellschaft versöhnt, ja – nahm er aus ihr die vollste Befriedigung seines Glückseligkeitstriebes, so war auch jede Notwendigkeit der christlichen Anschauung aufgehoben, das Christentum selbst praktisch vernichtet. Wie ursprünglich im menschlichen Gemüte aus diesem Zwiespalte aber diese Anschauung hervorgegangen war, so nährte das
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