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Oper und Drama

Oper und Drama

Titel: Oper und Drama Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Wagner
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seine Fähigkeiten zur höchsten Geltung zu bringen, erwächst die ganze Bewegung der Geschichte. Die geschichtlichen Erscheinungen sind die äußersten Äußerungen der inneren Bewegung, deren Kern die soziale Natur des Menschen ist. Die nährende Kraft dieser Natur ist aber das Individuum , das nur in der Befriedigung seines unwillkürlichen Liebesverlangens seinen Glückseligkeitstrieb stillen kann. Aus den Äußerungen dieser Natur nun auf ihren Kern zu schließen – aus dem Tode der vollendeten Tatsache auf das innere Leben des sozialen Triebes der Menschen, aus welchem jene als fertige, reife und sterbende Frucht hervorgewachsen war, zurückzugehen –, darin bekundete sich der Entwickelungsgang der neuen Zeit. – Was der Denker nach seinem Wesen erfaßt, sucht der Künstler in seiner Erscheinung darzustellen: die Erscheinungen der Gesellschaft, die auch er für den Boden der Geschichte erkannt hatte, strebte der Dichter sich in einem Zusammenhange vorzuführen, aus dem er sie zu erklären vermochte. Als den erkenntlichsten Zusammenhang der Erscheinungen der Gesellschaft erfaßte er die gewohnte Umgebung des bürgerlichen Lebens, um in der Schilderung seiner Zustände sich den Menschen zu erklären, der, von der Teilnahme an den Äußerungen der Geschichte entfernt, ihm doch diese Äußerungen zu bedingen schien. Diese bürgerliche Gesellschaft war aber – wie ich mich zuvor bereits ausdrückte – nur ein Niederschlag der von oben herab auf sie drückenden Geschichte, wenigstens ihrer äußeren Form nach. Seit der Konsolidierung des modernen Staates beginnt allerdings die neue Lebensregung der Welt von der bürgerlichen Gesellschaft auszugehen: die lebendige Energie der geschichtlichen Erscheinungen stumpft sich ganz in dem Grade ab, als die bürgerliche Gesellschaft im Staate ihre Forderungen zur Geltung zu bringen sucht. Gerade durch ihre innere Teilnahmlosigkeit an den geschichtlichen Erscheinungen, durch ihr träges, interesseloses Zuschauen, offenbart sie uns aber den Druck, mit dem sie auf ihr lasten, und gegen den sie sich eben mit ergebenem Widerwillen verhält. Unsere bürgerliche Gesellschaft ist insofern kein lebensvoller Organismus, als sie von oben herab, aus den rückwirkenden Äußerungen der Geschichte, in ihrer Gestaltung beeinflußt ist. Die Physiognomie der bürgerlichen Gesellschaft ist die abgestumpfte, entstellte, bis zur Ausdruckslosigkeit geschwächte Physiognomie der Geschichte: was diese durch lebendige Bewegung im Atem der Zeit ausdrückt, gibt jene durch träge Ausbreitung im Raume. Diese Physiognomie ist aber die Larve der bürgerlichen Gesellschaft, unter der sie dem menschensuchenden Blicke diesen Menschen eben noch verbirgt: der künstlerische Schilderer dieser Gesellschaft konnte nur noch die Züge dieser Larve, nicht aber die des wahren Menschen beschreiben; je getreuer diese Beschreibung war, desto mehr mußte das Kunstwerk an lebendiger Ausdruckskraft verlieren.
    Ward nun auch diese Larve aufgehoben, um unter ihr nach den ungeschminkten Zügen der menschlichen Gesellschaft zu forschen, so mußte sich dem Auge zunächst ein Chaos von Unschönheit und Formlosigkeit darbieten. Nur im Gewande der Geschichte hatte der durch diese Geschichte erzogene, an seiner wahren gesunden Natur verdorbene und verkrüppelte Mensch ein für den Künstler erträgliches Aussehen erhalten. Dies Gewand von ihm abgezogen, ersahen wir zu unserem Entsetzen in ihm eine verschrumpfte, ekelerregende Gestalt, die in nichts dem wahren Menschen, wie wir aus der Fülle seines natürlichen Wesens ihn in Gedanken uns vorgestellt hatten, mehr ähnlich sah als in dem schmerzlichen Leidensblicke des sterbenden Kranken – diesem Blicke, aus dem das Christentum seine schwärmerische Begeisterung gesogen hatte. Von diesem Anblicke wandte sich der Kunstsehnsüchtige ab, um – wie Schiller – im Reiche des Gedankens sich Schönheit zu träumen, oder – wie Goethe – ihn mit dem Gewande künstlerischer Schönheit, so gut es auf ihn passen mochte, sich zu verhüllen. Sein Roman »Wilhelm Meister« war ein solches Gewand, durch das Goethe sich den Anblick der Wirklichkeit erträglich zu machen suchte: es entsprach der Wirklichkeit des nackten modernen Menschen insoweit, als dieser selbst als nach künstlerisch schöner Form strebend gedacht und dargestellt wurde.
    Bis dahin war für das künstlerische Auge, wie nicht minder für den Blick des Geschichtsforschers, die menschliche Gestalt in die Tracht der

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