Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Oper und Drama

Oper und Drama

Titel: Oper und Drama Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Wagner
Vom Netzwerk:
starke, mit unüberwindlichen Gefühlen uns einnehmende.
    Oidipus, der seine Mutter ehelichte und mit ihr Kinder zeugte, ist eine Erscheinung, die uns mit Grauen und Abscheu erfüllt, weil sie unsere gewohnten Beziehungen zu unserer Mutter und die durch sie gebildeten Ansichten unversöhnlich verletzt. –
    Waren nun diese zu sittlichen Begriffen erwachsenen Ansichten nur deshalb von so großer Stärke, weil sie unwillkürlich aus dem Gefühle der menschlichen Natur hervorgingen, so fragen wir nun: Verging sich Oidipus gegen die menschliche Natur, als er seiner Mutter sich vermählte? – Ganz gewiß nicht. Die verletzte Natur hätte sich sonst dadurch offenbaren müssen, daß sie aus dieser Ehe keine Kinder entstehen ließ; gerade die Natur zeigte sich aber ganz willig: Jokaste und Oidipus , die sich als zwei ungewohnte Erscheinungen begegneten, liebten sich, und fanden sich erst von dem Augenblicke an in ihrer Liebe gestört, als ihnen von außen bekanntgemacht wurde, daß sie Mutter und Sohn seien. Oidipus und Jokaste wußten nicht, in welcher sozialen Beziehung sie zueinander standen: sie hatten unbewußt nach der natürlichen Unwillkür des reinmenschlichen Individuums gehandelt; ihrer Verbindung war eine Bereicherung der menschlichen Gesellschaft in zwei kräftigen Söhnen und zwei edlen Töchtern entsprossen, auf welchen nun, wie auf den Eltern, der unabwendbare Fluch dieser Gesellschaft lastete. Das betroffene Paar, das mit seinem Bewußtsein innerhalb der sittlichen Gesellschaft stand, verurteilte sich selbst, als es seines unbewußten Frevels gegen die Sittlichkeit inne ward: dadurch, daß es sich um seiner Büßung willen vernichtete, bewies es die Stärke des sozialen Ekels gegen seine Handlung, der ihm schon vor der Handlung durch Gewohnheit zu eigen war; dadurch, daß es die Handlung dennoch trotz des sozialen Bewußtseins ausübte, bezeugte es aber die noch bei weitem größere und unwiderstehlichere Gewalt der unbewußten individuellen menschlichen Natur.
    Wie bedeutsam ist es nun, daß gerade dieser Oidipus das Rätsel der Sphinx gelöst hatte! Er sprach im voraus seine Rechtfertigung und seine Verdammung zugleich selbst aus, da er als den Kern dieses Rätsels den Menschen bezeichnete. Aus dem halbtierischen Leibe der Sphinx trat ihm zunächst das menschliche Individuum nach seiner Naturunterworfenheit entgegen: als das Halbtier aus seiner öden Felseneinsamkeit sich selbstzerschmetternd in den Abgrund gestürzt hatte, wandte sich der kluge Rätsellöser zu den Städten der Menschen, um den ganzen, den sozialen Menschen, aus seinem eigenen Untergange erraten zu lassen. Als er sich die leuchtenden Augen ausstach, die einem despotischen Beleidiger Zorn zugeflammt und einem edlen Weibe Liebe zugestrahlt hatten, ohne zu ersehen, daß jener sein Vater und diese seine Mutter war, da stürzte er sich zu der zerschmetterten Sphinx hinab, deren Rätsel er nun als noch ungelöst erkennen mußte. – Erst wir haben dieses Rätsel zu lösen, und zwar dadurch, daß wir die Unwillkür des Individuums aus der Gesellschaft, deren höchster, immer erneuernder und belebender Reichtum sie ist, selbst rechtfertigen. –
    Zunächst laßt uns aber noch den weiteren Verlauf der Oidipus-Sage berühren und sehen, wie sich die Gesellschaft gebarte, und wohin sich ihr sittliches Bewußtsein verirrte! –
    Aus den Zerwürfnissen der Söhne des Oidipus erwuchs Kreon , dem Bruder der Jokaste, die Herrschaft über Theben. Als Herr befahl er, der Leichnam des einen der Söhne, Polyneikes , der mit dem andern, Eteokles , zugleich im Brüderzweikampfe gefallen war, solle unbegraben den Winden und Vögeln preisgegeben sein, während der des Eteokles in feierlichen Ehren bestattet wurde: wer dem Gebote zuwiderhandle, solle selbst lebendig begraben werden. Antigone , beider Brüder Schwester – sie, die den blinden Vater in das Elend begleitet hatte – trotzte mit vollem Bewußtsein dem Gebote, bestattete des geächteten Bruders Leichnam und erlitt die vorausbestimmte Strafe. – Hier sehen wir den Staat , der unmerklich aus der Gesellschaft hervorgewachsen war, aus der Gewohnheit ihrer Anschauung sich genährt hatte und zum Vertreter dieser Gewohnheit insofern wurde, daß er eben nur sie, die abstrakte Gewohnheit, deren Kern die Furcht und der Widerwille vor dem Ungewohnten ist, vertrat. Mit der Kraft dieser Gewohnheit ausgestattet, wendet der Staat sich nun vernichtend gegen die Gesellschaft selbst zurück, indem er die

Weitere Kostenlose Bücher