Oper und Drama
natürliche Nahrung ihres Daseins in den unwillkürlichen und heiligsten sozialen Gefühlen ihr verwehrt. Der vorliegende Mythos zeigt uns genau, wie sich dies zutrug: betrachten wir ihn nur näher.
Welchen Vorteil hatte wohl Kreon von dem Erlasse des grausamen Gebotes? Und was vermochte ihn, es für möglich zu halten, daß ein solches Gebot nicht durch die allgemeine Entrüstung zurückgewiesen werden müßte? – Eteokles und Polyneikes hatten nach dem Untergange des Vaters beschlossen, ihr Erbe, die Herrschaft über Theben, so unter sich zu teilen, daß sie abwechselnd es verwalteten. Eteokles, der das Erbe zuerst genoß, verweigerte, als Polyneikes aus freiwilliger Verbannung zur festgesetzten Zeit zurückkam, um nun auch für seine Frist das Erbe zu genießen, seinem Bruder die Übergabe. Somit war er eidbrüchig. Bestrafte ihn dafür die eidheiligende Gesellschaft? Nein; sie unterstützte ihn in seinem Vorhaben, das sich auf einen Eidbruch gründete. Hatte man die Scheu vor der Heiligkeit des Eides bereits verloren? Nein; im Gegenteile: man klagte zu den Göttern um des Übels des Eidbruches, denn man fürchtete, er würde gerächt werden. Trotz des bösen Gewissens ließen sich aber die Bürger Thebens Eteokles' Verfahren gefallen, weil der Gegenstand des Eides, der von den Brüdern beschworene Vertrag, ihnen für jetzt bei weitem lästiger schien als die Folgen eines Eidbruches, die durch Opfer und Spenden an die Götter vielleicht beseitigt werden konnten. Was ihnen nicht gefiel, war der Wechsel der Herrschaft, die beständige Neuerung, weil die Gewohnheit bereits zur wirklichen Gesetzgeberin geworden war. Auch beurkundete sich in dieser Parteinahme der Bürger für Eteokles ein praktischer Instinkt vom Wesen des Eigentumes, das jeder gern allein genießen, mit einem andern aber nicht teilen wollte: jeder Bürger, der im Eigentume die Gewährleistung gewohnter Ruhe erkannte, war ganz von selbst der Mitschuldige der unbrüderlichen Tat des obersten Eigentümers Eteokles. Die Macht der eigennützigen Gewohnheit unterstützte also Eteokles, und gegen sie kämpfte nun der verratene Polyneikes mit jugendlicher Hitze an. In ihm lebte nur das Gefühl einer rächenswürdigen Kränkung: er sammelte ein Heer gleichfühlender, heldenhafter Genossen, zog vor die eidbruchschützende Stadt und bedrängte sie, um den erbräuberischen Bruder aus ihr zu verjagen. Diese von einem durchaus gerechtfertigten Unwillen eingegebene Handlungsweise erschien den Bürgern Thebens nun wieder als ein ungeheurer Frevel; denn Polyneikes, als er seine Vaterstadt bekriegte, war unbedingt ein sehr schlechter Patriot . Die Freunde des Polyneikes waren aus allen Volksstämmen zusammengetreten: sie machte ein rein menschliches Interesse der Sache des Polyneikes geneigt, und sie vertraten somit das Reinmenschliche, die Gesellschaft in ihrem weitesten und natürlichsten Sinne, gegenüber einer beschränkten, engherzigen, eigensüchtigen Gesellschaft, die unvermerkt vor ihrem Andrängen zum knöchernen Staate zusammenschrumpfte. – Um den langen Krieg zu enden, forderten sich die Brüder zum Zweikampf: Beide fielen auf der Walstatt. –
Der kluge Kreon überschaute nun den Zusammenhang der Vorfälle und erkannte aus ihm das Wesen der öffentlichen Meinung, als deren Kern er die Gewohnheit, die Sorge und den Widerwillen vor der Neuerung erfaßte. Die sittliche Ansicht vom Wesen der Gesellschaft, die in dem großherzigen Oidipus noch so stark war, daß er sich, aus Ekel vor seinem unbewußten Frevel gegen sie, selbst vernichtet hatte, verlor ihre Kraft ganz in dem Grade, als das sie bedingende Reinmenschliche in Widerstreit mit dem stärksten Interesse der Gesellschaft, der absoluten Gewohnheit, d. h. dem gemeinsamen Eigennutz, kam. Dieses sittliche Bewußtsein trennte sich überall da, wo es mit der Praxis der Gesellschaft in Widerstreit geriet, von dieser ab und setzte sich als Religion fest, wogegen sich die praktische Gesellschaft zum Staate gestaltete. In der Religion blieb die Sittlichkeit , die vorher in der Gesellschaft etwas Warmes, Lebendiges gewesen war, nur noch etwas Gedachtes , Gewünschtes, aber nicht mehr Ausführbares: im Staate handelte man dagegen nach praktischem Ermessen des Nutzens, und wurde hierbei das sittliche Gewissen verletzt, so beschwichtigte man dies durch staatsunschädliche Religionsübungen. Der große Vorteil war hierbei, daß man in der Religion wie im Staate, jemand gewann, auf den man seine Sünden
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