Oper und Drama
Historie oder in die Uniform des Staates verhüllt gewesen: über diese Tracht hatte phantasiert, über diese Form disputiert werden können. Dichter und Denker hatten eine ungeheure Auswahl beliebiger Gestaltungen vor sich, unter denen sie je nach künstlerischem Verlangen oder willkürlicher Annahme den Menschen sich vorstellen konnten, den sie immer nur noch in jenem Gewande begriffen, das von außen her ihm umgelegt war. Noch die Philosophie hatte sich durch dieses Gewand über die wahre Natur des Menschen beirren lassen; der historische Romandichter war – in einem gewissen Sinne – aber eigentlich nur Kostümzeichner gewesen. Mit der Aufdeckung der wirklichen Gestalt der modernen Gesellschaft nahm nun der Roman eine praktischere Stellung an: Der Dichter konnte jetzt nicht mehr künstlerisch phantasieren, wo er die nackte Wirklichkeit vor sich enthüllt hatte, die den Beschauer mit Grauen, Mitleiden und Zorn erfüllte. Er brauchte aber nur diese Wirklichkeit darzustellen, ohne sich über sie belügen zu wollen – er durfte nur Mitleiden empfinden, so trat auch seine zürnende Kraft in das Leben. Er konnte noch dichten, als er die furchtbare Unsittlichkeit unserer Gesellschaft nur noch darzustellen bemüht war: der tiefe Unmut, der ihm aus seiner eigenen Darstellung erwachsen mußte, trieb ihn aber aus einem beschaulichen dichterischen Behagen, in dem er sich immer weniger mehr zu täuschen vermochte, heraus in die Wirklichkeit selbst, um in ihr für das erkannte wirkliche Bedürfnis der menschlichen Gesellschaft zu streiten. Auf ihrem Wege zur praktischen Wirklichkeit streifte auch die Romandichtung immer mehr ihr künstlerisches Gewand ab: die als Kunstform ihr mögliche Einheit mußte sich – um durch Verständlichkeit zu wirken – in die praktische Vielheit der Tageserscheinungen selbst zersetzen. Ein künstlerisches Band war da unmöglich, wo alles nach Auflösung rang, wo das zwingende Band des historischen Staates zerrissen werden sollte. Die Romandichtung ward Journalismus , ihr Inhalt zersprengte sich in politische Artikel ; ihre Kunst ward zur Rhetorik der Tribüne , der Atem ihrer Rede zum Aufruf an das Volk .
So ist die Kunst des Dichters zur Politik geworden: Keiner kann dichten, ohne zu politisieren. Nie wird aber der Politiker Dichter werden, als wenn er eben aufhört, Politiker zu sein: in einer rein politischen Welt nicht Politiker zu sein heißt aber soviel, als gar nicht existieren; wer sich jetzt noch unter der Politik hinwegstiehlt, belügt sich nur um sein eigenes Dasein. Der Dichter kann nicht eher wieder vorhanden sein, als bis wir keine Politik mehr haben.
Die Politik ist aber das Geheimnis unserer Geschichte und der aus ihr hervorgegangenen Zustände. Napoleon sprach es aus. Er sagte zu Goethe: Die Stelle des Fatums in der antiken Welt vertrete seit der Herrschaft der Römer die Politik . – Verstehen wir den Ausspruch des Büßers von St. Helena wohl! In ihm faßt sich in Kürze die ganze Wahrheit dessen zusammen, was wir zu begreifen haben, um auch über Inhalt und Form des Dramas in das reine zu kommen.
[ III ]
Das Fatum der Griechen ist die innere Naturnotwendigkeit , aus der sich der Grieche – weil er sie nicht verstand – in den willkürlichen politischen Staat zu befreien suchte. Unser Fatum ist der willkürliche politische Staat, der sich uns als äußere Notwendigkeit für das Bestehen der Gesellschaft darstellt, und aus dem wir uns in die Naturnotwendigkeit zu befreien suchen, weil wir sie verstehen gelernt und als die Bedingung unseres Daseins und seiner Gestaltungen erkannt haben.
Die Naturnotwendigkeit äußert sich am stärksten und unüberwindlichsten im physischen Lebenstriebe des Individuums – unverständlicher und willkürlicher deutbar aber in der sittlichen Anschauung der Gesellschaft , aus welcher der unwillkürliche Trieb des Individuums im Staate endlich beeinflußt oder beurteilt wird. Der Lebenstrieb des Individuums äußert sich immer neu und unmittelbar , das Wesen der Gesellschaft ist aber die Gewohnheit und ihre Anschauung eine vermittelte . Die Anschauung der Gesellschaft, sobald sie das Wesen des Individuums und ihre Entstehung aus diesem Wesen noch nicht vollkommen begreift, ist daher eine beschränkende und hemmende, und ganz in dem Grade wird sie immer tyrannischer, als das belebende und neuernde Wesen des Individuums aus unwillkürlichem Drange gegen die Gewohnheit ankämpft. Diesen Drang mißverstand der Grieche, der ihn vom
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