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Oper und Drama

Oper und Drama

Titel: Oper und Drama Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Wagner
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Standpunkte der sittlichen Gewohnheit aus als störend erkannte, nun dahin, daß er ihn aus einem Zusammenhange herleitete, in welchem das handelnde Individuum als unter einem Einflusse stehend gedacht wurde, welcher ihn seiner Freiheit im Handeln, nach der er das sittlich Gewohnte getan haben würde, beraubte. Da das Individuum durch seine gegen die sittliche Gewohnheit verübte Tat sich vor der Gesellschaft verdarb, mit dem Bewußtsein der Tat aber insoweit wieder in die Gesellschaft eintrat, als er sich aus ihrem Bewußtsein selbst verdammte, so erschien der Akt unbewußter Versündigung einzig aus einem Fluche erklärbar, der auf ihm ohne sein persönliches Verschulden ruhe. Dieser Fluch, der im Mythos als göttliche Strafe für eine Urfreveltat und auf dem besonderen Geschlechte bis zu dessen Untergange haftend dargestellt ward, ist in Wahrheit aber nichts anderes als die so versinnlichte Macht der Unwillkür im unbewußten, naturnotwendigen Handeln des Individuums, wogegen die Gesellschaft als das Bewußte, Willkürliche, in Wahrheit zu Erklärende und zu Entschuldigende erscheint. Erklärt und entschuldigt wird sie aber nur, wenn ihre Anschauung ebenfalls als eine unwillkürliche und ihr Bewußtsein als auf einer irrtümlichen Anschauung vom Wesen des Individuums begründet erkannt wird.
    Machen wir uns dieses Verhältnis aus dem sonst so bezeichnungsvollen Mythos vom Oidipus klar.
    Oidipus hatte einen Mann, der ihn durch eine Beleidigung gereizt und endlich zur Notwehr gedrängt, erschlagen. Hierin fand die öffentliche Meinung nichts Verdammungswürdiges, denn dergleichen Fälle trugen sich häufig zu und erklärten sich aus der allen begreiflichen Notwendigkeit der Abwehr eines Angriffes. Noch weniger beging Oidipus einen Frevel aber darin, daß er zum Lohne einer dem Lande erwiesenen Wohltat die verwitwete Königin desselben zum Weibe nahm.
    Aber es entdeckte sich, daß der Erschlagene nicht nur der Gemahl dieser Königin, sondern auch der Vater – und somit sein hinterlassenes Weib die Mutter des Oidipus waren.
    Kindliche Ehrfurcht vor dem Vater, Liebe zu ihm, und der Eifer der Liebe, im Alter ihn zu pflegen und zu schützen, waren dem Menschen so unwillkürliche Gefühle, und auf diese Gefühle begründete sich so ganz von selbst die wesentlichste Grundanschauung der gerade durch sie zur Gesellschaft verbundenen Menschen, daß eine Tat, welche diese Gefühle am empfindlichsten verletzte, ihnen unbegreiflich und verdammungswürdig vorkommen mußte. Diese Gefühle waren aber so stark und unüberwindlich, daß selbst die Rücksicht, wie jener Vater zuerst seinem Sohne nach dem Leben trachtete, sie nicht bewältigen konnte: in dem Tode des Laios ward wohl eine Strafe für dieses sein älteres Verbrechen erkannt, so daß wir in der Tat gegen seinen Untergang selbst unempfindlich sind; aber dieses Verhältnis war dennoch nicht vermögend, uns irgendwie über die Tat des Oidipus zu beruhigen, die sich schließlich immer nur als ein Vatermord kundgab.
    Noch heftiger steigerte sich aber der öffentliche Widerwille gegen den Umstand, daß Oidipus seiner eigenen Mutter sich vermählt und Kinder mit ihr gezeugt hatte. – Im Familienleben, der natürlichsten – aber beschränktesten Grundlage der Gesellschaft, hatte es sich ganz von selbst herausgestellt, daß zwischen Eltern und Kindern, sowie zwischen den Geschwistern selbst, eine ganz andere Zuneigung sich entwickelt, als sie in der heftigen, plötzlichen Erregung der Geschlechtsliebe sich kundgibt. In der Familie werden die natürlichen Banden zwischen Erzeugern und Erzeugten zu den Banden der Gewohnheit, und nur aus der Gewohnheit entwickelt sich wiederum eine natürliche Neigung der Geschwister zueinander. Der erste Reiz der Geschlechtsliebe wird der Jugend aber aus einer ungewohnten, fertig aus dem Leben ihr entgegentretenden Erscheinung zugeführt; das Überwältigende dieses Reizes ist so groß, daß er das Familienglied eben aus der gewohnten Umgebung der Familie, in der dieser Reiz sich nie ihm darbot, herauszieht und zum Umgange mit dem Ungewohnten fortreißt. Die Geschlechtsliebe ist die Aufwieglerin, welche die engen Schranken der Familie durchbricht, um sie selbst zur größeren menschlichen Gesellschaft zu erweitern. Die Anschauung vom Wesen der Familienliebe und dem ihm entgegengesetzten der Geschlechtsliebe ist daher eine unwillkürliche, der Natur der Sache selbst entnommene: sie beruht auf der Erfahrung und der Gewohnheit und ist daher eine

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