Oper und Drama
abwälzen konnte: die Verbrechen des Staates mußte der Fürst [Fußnote: Die spätere Demokratie war die offene Übernahme des Sündenträgeramtes von allen Bürgern zusammen; sie gestanden sich hierbei ein, so weit über sich aufgeklärt zu sein, daß sie selbst der Grund der fürstlichen Willkür waren. Hier ward denn auch die Religion offen zur Kunst und der Staat zum Tummelplatz der egoistischen Persönlichkeit; auf der Flucht vor der individuellen Unwillkür geriet der Staat in die Herrschaft der individuellen Willkür starktriebiger Persönlichkeiten; und nachdem Athen einem Alkibiades zugejauchzt und einen Demetrios vergöttert hatte, leckte es endlich mit Wohlbehagen den Speichel eines Nero .] ausbaden, die Verstöße gegen die religiöse Sittlichkeit hatten aber die Götter zu verantworten. – Eteokles war der praktische Sündenbock des neuen Staates gewesen: die Folgen seines Eidbruches hatten die gütigen Götter auf ihn zu leiten gehabt; die Stabilität des Staates aber sollten (so hofften sie wenigstens, wenn es leider auch nie geschah!) die wackern Bürger Thebens für sich schmecken. Wer sich wieder zu solchem Sündenbocke hergeben wollte, war ihnen daher willkommen; und das war der kluge Kreon, der mit den Göttern sich wohl abzufinden wußte, nicht aber der hitzige Polyneikes, der um eines einfachen Eidbruches willen so wild an die Tore der guten Stadt klopfte.
Kreon erkannte aber auch aus der eigentlichen Ursache des tragischen Schicksals der Laiden, wie grundnachsichtig die Thebäer gegen wirkliche Frevel seien, wenn diese nur die ruhige bürgerliche Gewohnheit nicht störten. Dem Vater Laios war von der Pythia verkündigt worden, ein ihm zu gebärender Sohn würde ihn dereinst umbringen. Nur um kein öffentliches Ärgernis zu bereiten, gab der ehrwürdige Vater heimlich den Befehl, das neugeborene Knäblein in irgendwelchen Waldecke zu töten, und bewies sich hierin höchst rücksichtsvoll gegen das Sittlichkeitsgefühl der Bürger Thebens, die, wäre der Mordbefehl öffentlich vor ihren Augen ausgeführt worden, nur den Ärger dieses Skandals und die Aufgabe, ungewöhnlich viel zu den Göttern zu beten, keinesweges aber den nötigen Abscheu empfunden haben würden, der ihnen die praktische Verhinderung der Tat und die Strafe des bewußten Sohnesmörders eingegeben hätte; denn die Kraft des Abscheus wäre ihnen sogleich durch die Rücksicht erstickt worden, daß durch diese Tat ja die Ruhe im Orte gewährleistet war, die ein – in Zukunft jedenfalls ungeratener – Sohn gestört haben müßte. Kreon hatte bemerkt, daß bei Entdeckung der unmenschlichen Tat des Laios diese Tat selbst eigentlich keine rechte Entrüstung hervorgebracht hatte, ja, daß es allen gewiß lieber gewesen wäre, wenn der Mord wirklich vollzogen worden, denn dann wäre ja alles gut gewesen, und in Theben hätte es keinen so schrecklichen Skandal gegeben, der die Bürger auf lange Jahre in so große Beunruhigung stürzte. Ruhe und Ordnung , selbst um den Preis des niederträchtigsten Verbrechens gegen die menschliche Natur und selbst die gewohnte Sittlichkeit – um den Preis des bewußten, absichtlichen, von der unväterlichsten Eigensucht eingegebenen Mordes eines Kindes durch seinen Vater –, waren jedenfalls berücksichtigungswerter als die natürlichste menschliche Empfindung, die dem Vater sagt, daß er sich seinen Kindern, nicht aber diese sich aufzuopfern habe. – Was war nun diese Gesellschaft, deren natürliches Sittlichkeitsgefühl ihre Grundlage gewesen war, geworden? Der schnurgerade Gegensatz ihrer eigenen Grundlage: die Vertreterin der Unsittlichkeit und Heuchelei. Das Gift, das sie verdarb, war aber – die Gewohnheit . Der Hang zur Gewohnheit, zur unbedingten Ruhe, verleitete sie, den Quell zu verstopfen, aus dem sie sich ewig frisch und gesund hätte erhalten können; und dieser Quell war das freie, aus seinem Wesen sich selbst bestimmende Individuum. In ihrer höchsten Verderbtheit ist der Gesellschaft die Sittlichkeit, d. h. das wahrhaft Menschliche, auch nur durch das Individuum wieder zugeführt worden, das nach dem unwillkürlichen Drange der Naturnotwendigkeit ihr gegenüber handelte und sie moralisch verneinte. Auch diese schöne Rechtfertigung der wirklichen menschlichen Natur enthält noch in deutlichsten Zügen der weltgeschichtliche Mythos, den wir vor uns haben.
Kreon war Herrscher geworden: in ihm erkannte das Volk den richtigen Nachfolger des Laios und Eteokles, und er bestätigte
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