Oper und Drama
der große Irrtum, aus dem der politische Staat sich bis zu der unnatürlichen Höhe entwickelte, von welcher herab er die menschliche Natur leiten wollte, die er gar nicht verstand und um so weniger verstehen konnte, je mehr er sie leiten wollte.
Der politische Staat lebt einzig von den Lastern der Gesellschaft , deren Tugenden ihr einzig von der menschlichen Individualität zugeführt werden. Vor den Lastern der Gesellschaft, die er einzig erblicken kann, vermag er ihre Tugenden, die sie von jener Individualität gewinnt, nicht zu erkennen. In dieser Stellung drückt er auf der Gesellschaft in dem Grade, daß sie ihre lasterhafte Seite auch auf die Individualität hinkehrt, und somit sich endlich jeden Nahrungsquell verstopfen müßte, wenn die Notwendigkeit der individuellen Unwillkür nicht stärkerer Natur wäre als die willkürlichen Vorstellungen des Politikers. – Die Griechen mißverstanden im Fatum die Natur der Individualität, weil sie die sittliche Gewohnheit der Gesellschaft störte: um dies Fatum zu bekämpfen, waffneten sie sich mit dem politischen Staat. Unser Fatum ist nun der politische Staat, in welchem die freie Individualität ihr verneinendes Schicksal erkennt. Das Wesen des politischen Staates ist aber Willkür , während das der freien Individualität Notwendigkeit [ist]. [Fußnote: Unsere modernen Staatspolitiker drehen das um: sie nennen die Befolgung des Staatsgesetzes Notwendigkeit , während sie den Bruch desselben aus der Willkür des Individuums herleiten. So erscheint ihnen die Freiheit als Willkür, der Zwang aber als Notwendigkeit. Wer diese hochwichtigen Worte nach ihrem naturgemäßen Sinne anwendet, der drückt sich – wie sie in Rezensionen schreiben – in »befangener Sprache« aus.] Aus dieser Individualität, die wir in tausendjährigen Kämpfen gegen den politischen Staat als das Berechtigte erkannt haben, die Gesellschaft zu organisieren , [Fußnote: Allerdings nicht in dem Sinne der österreichischen Regierung, welche gegenwärtig ihre Staaten auch – wie sie sich ausdrückt – »organisiert«. Verstehen wir hier dies Wort in demselben »befangenen« Sprachsinne, nach welchem es nicht ein mechanisches Arrangieren von oben herab, sondern ein Entstehenlassen aus der Wurzel bedeutet. ] ist die uns zum Bewußtsein gekommene Aufgabe der Zukunft. Die Gesellschaft in diesem Sinne organisieren heißt aber, sie auf die freie Selbstbestimmung des Individuums als auf ihren ewig unerschöpflichen Quell gründen. Das Unbewußte der menschlichen Natur in der Gesellschaft zum Bewußtsein bringen , und in diesem Bewußtsein nichts anderes zu wissen als eben die allen Gliedern der Gesellschaft gemeinsame Notwendigkeit der freien Selbstbestimmung des Individuums , heißt aber soviel, als – den Staat vernichten ; denn der Staat schritt durch die Gesellschaft zur Verneinung der freien Selbstbestimmung des Individuums vor – von ihrem Tode lebte er.
[ IV ]
Für die Kunst , um die es bei dieser Untersuchung uns einzig zu tun war, liegt in der Vernichtung des Staates nun folgendes, über alles wichtige Moment.
Die Darstellung des Kampfes, in welchem sich das Individuum vom politischen Staate oder vom religiösen Dogma zu befreien suchte, mußte um so notwendiger die Aufgabe des Dichters werden, als das politische Leben, von dem entfernt der Dichter endlich nur noch ein geträumtes Leben führen konnte, von den Wechselfällen dieses Kampfes selbst, als von seinem wirklichen Inhalte, mit immer vollerem Bewußtsein erfüllt war. Lassen wir den religiösen Staatsdichter beiseite, der auch als Künstler den Menschen mit grausamem Behagen seinem Götzen opferte, so haben wir nur den Dichter vor uns, der, von wahrhaftem schmerzlichem Mitgefühle für die Leiden des Individuums erfüllt, als solches selbst und durch die Darstellung seines Kampfes, sich gegen den Staat, gegen die Politik wendete. Die Individualität, welche der Dichter in den Kampf gegen den Staat führte, war aber der Natur der Sache nach keine rein menschliche , sondern eine durch den Staat selbst bedingte . Sie war von gleicher Gattung wie der Staat und nur der innerhalb des Staates liegende Gegensatz von dessen äußerster Spitze. Bewußte Individualität, d. h. eine Individualität, die uns bestimmt, in diesem einen Falle so und nicht anders zu handeln, gewinnen wir nur in der Gesellschaft , welche uns erst den Fall vorführt, in dem wir uns zu entscheiden haben. Das Individuum ohne Gesellschaft ist uns als
Weitere Kostenlose Bücher