Oper und Drama
Gefühle sich an den Verstand wenden: das Gefühl ist für ihn das Hinderliche; erst wenn er es mit höchster Behutsamkeit überwunden hat, kommt er zu seinem eigentlichen Vorhaben, der Darlegung eines Gedankens an den Verstand. –
Der Verstand ist somit von vornherein die menschliche Fähigkeit, an die der moderne Dichter sich mitteilen will, und zu ihm kann er einzig durch das Organ des kombinierenden, zersetzenden, teilenden und trennenden Verstandes die von dem Gefühle abstrahierte, die Eindrücke und Empfängnisse des Gefühles nur noch schildernde, vermittelnde und bedingte Wortsprache reden. Wäre unser Staat selbst ein würdiger Gegenstand des Gefühles, so würde der Dichter, um sein Vorhaben zu erreichen, im Drama gewissermaßen von der Musik zur Wortsprache überzugehen haben: in der griechischen Tragödie war es fast ähnlich der Fall, aber aus umgekehrten Gründen. Ihre Grundlage war die Lyrik, aus der sie so zur Wortsprache vorschritt, wie die Gesellschaft aus dem natürlichen, sittlich religiösen Gefühlsverbande zum politischen Staate vorschritt. Die Rückkehr aus dem Verstande zum Gefühle wird insoweit der Gang des Dramas der Zukunft sein, als wir aus der gedachten Individualität zur wirklichen vorschreiten werden. Der moderne Dichter hat aber auch vom Beginn herein eine Umgebung, den Staat, darzustellen, die jedes reinmenschlichen Gefühlsmomentes bar und im höchsten Gefühlsausdruck unmittelbar ist. Sein ganzes Vorhaben kann er daher nur durch das Mitteilungsorgan des kombinierenden Verstandes, durch die ungefühlvolle moderne Sprache erreichen; und mit Recht dünkt es dem heutigen Schauspieldichter ungeeignet, verwirrend und störend, wenn er die Musik für einen Zweck mit verwenden sollte, der irgend verständlich nur als Gedanke an den Verstand, nicht aber an das Gefühl als Affekt auszusprechen ist.
Welche Gestaltung des Dramas würde in dem bezeichneten Sinne nun aber den Untergang des Staates, die gesunde organische Gesellschaft hervorrufen?
Der Untergang des Staates kann vernünftigerweise nichts anderes heißen, als das sich verwirklichende religiöse Bewußtsein der Gesellschaft vor ihrem rein menschlichen Wesen . Dieses Bewußtsein kann seiner Natur nach kein von außen eingeprägtes Dogma sein, d. h. nicht auf geschichtlicher Tradition beruhen, und nicht durch den Staat anerzogen werden. So lange irgendeine Lebenshandlung als äußere Pflicht von uns gefordert wird, so lange ist der Gegenstand dieser Handlung kein Gegenstand eines religiösen Bewußtseins; denn aus religiösem Bewußtsein handeln wir aus uns selbst, und zwar so, wie wir nicht anders handeln können. Religiöses Bewußtsein heißt aber allgemeinsames Bewußtsein, und allgemeinsam kann ein Bewußtsein nur sein, wenn es das Unbewußte, Unwillkürliche, Reinmenschliche als das einzig Wahre und Notwendige weiß, und aus seinem Wissen rechtfertigt. So lange das Reinmenschliche uns in irgendwelcher Trübung vorschwebt, wie es im gegenwärtigen Zustande unserer Gesellschaft uns gar nicht anders vorschweben kann, so lange werden wir auch in millionenfach verschiedener Ansicht darüber befangen sein müssen, wie der Mensch sein solle: so lange wir, im Irrtume über sein wahres Wesen, uns Vorstellungen davon bilden, wie dieses Wesen sich kundgeben möchte, werden wir auch nach willkürlichen Formen streben und suchen müssen, in welchen dieses eingebildete Wesen sich kundgeben solle. So lange werden wir aber auch Staaten und Religionen haben, bis wir nur eine Religion und gar keinen Staat mehr haben. Wenn diese Religion aber notwendig eine allgemeinsame sein muß, so kann sie nichts anderes sein als die durch das Bewußtsein gerechtfertigte wirkliche Natur des Menschen, und jeder Mensch muß fähig sein, diese unbewußt zu empfinden und unwillkürlich zu betätigen. Diese gemeinsame menschliche Natur wird am stärksten von dem Individuum als seine eigene und individuelle Natur empfunden, wie sie sich in ihm als Lebens- und Liebestrieb kundgibt: die Befriedigung dieses Triebes ist es, was den einzelnen zur Gesellschaft drängt, in welcher er eben dadurch, daß er ihn nur in der Gesellschaft befriedigen kann , ganz von selbst zu dem Bewußtsein gelangt, das als ein religiöses, d. h. gemeinsames, seine Natur rechtfertigt. In der freien Selbstbestimmung der Individualität liegt daher der Grund der gesellschaftlichen Religion der Zukunft , die nicht eher in das Leben getreten sein wird, als bis diese Individualität
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