Oper und Drama
Individualität vollkommen undenkbar; denn erst im Verkehr mit anderen Individuen zeigt sich das, worin wir unterschieden von ihnen und an uns besonders sind. War nun die Gesellschaft zum politischen Staate geworden, so bedang dieser die Besonderheit der Individualität aus seinem Wesen ebenso, und als Staat – im Gegensatze zur freien Gesellschaft – natürlich nur bei weitem strenger und kategorischer als die Gesellschaft. Eine Individualität kann niemand schildern ohne ihre Umgebung, die sie als solche bedingt: war die Umgebung eine natürliche, der Entwickelung der Individualität Luft und Raum gebende, frei nach innerer Unwillkür an der Berührung mit dieser Individualität soeben sich elastisch neu gestaltende, so konnte diese Umgebung in den einfachsten Zügen treffend und wahr bezeichnet werden; denn nur durch die Darstellung der Individualität hatte die Umgebung selbst erst zu charakteristischer Eigentümlichkeit zu gelangen. Der Staat ist aber keine solche elastisch biegsame Umgebung, sondern eine dogmatisch starre, fesselnde, gebieterische Macht, die dem Individuum vorausbestimmt – so sollst du denken und handeln! Der Staat hat sich zum Erzieher der Individualität aufgeworfen; er bemächtigt sich ihrer im Mutterleibe durch Vorausbestimmung eines ungleichen Anteiles an den Mitteln zu sozialer Selbständigkeit; er nimmt ihr durch Aufnötigung seiner Moral ihre Unwillkürlichkeit der Anschauung, und weist ihr, als seinem Eigentume, die Stellung an, die sie zu der Umgebung einnehmen soll. Seine Individualität verdankt der Staatsbürger dem Staate; sie heißt aber nichts anderes als seine vorausbestimmte Stellung zu ihm, in welcher seine reinmenschliche Individualität für sein Handeln vernichtet und nur höchstens auf das beschränkt ist, was er ganz still vor sich hin denkt .
Den gefährlichen Winkel des menschlichen Hirnes, in welchen sich die ganze Individualität geflüchtet hatte, suchte der Staat mit Hülfe des religiösen Dogmas wohl ebenfalls auszufegen; hier mußte er aber machtlos bleiben, indem er sich nur Heuchler erziehen konnte, d. h. Staatsbürger, die anders handeln, als sie denken. Aus dem Denken erzeugte sich aber zuerst auch die Kraft des Widerstandes gegen den Staat. Die erste reinmenschliche Freiheitsregung bekundete sich in der Abwehr des religiösen Dogmas, und Denkfreiheit ward notgedrungen endlich vom Staate gestattet. Wie äußert sich aber nun diese bloß denkende Individualität im Handeln? – Solange der Staat vorhanden ist, wird sie nur als Staatsbürger , d. h. als Individualität, deren Handlungsweise nicht die ihrer Denkungsweise entsprechende ist, handeln können. Der Staatsbürger ist nicht vermögend, einen Schritt zu tun, der ihm nicht im voraus als Pflicht oder als Verbrechen vorgezeichnet ist: der Charakter seiner Pflicht und seines Verbrechens ist nicht der seiner Individualität eigene; er mag beginnen, was er will, um aus seinem noch so freien Denken zu handeln, er kann nicht aus dem Staate herausschreiten, dem auch sein Verbrechen angehört. Er kann nur durch den Tod aufhören, Staatsbürger zu sein, also da, wo er auch aufhört, Mensch zu sein.
Der Dichter, der nun den Kampf der Individualität gegen den Staat darzustellen hatte, konnte daher nur den Staat darstellen , die freie Individualität aber bloß dem Gedanken andeuten . Der Staat war das Wirkliche, fest und farbig Vorhandene, die Individualität dagegen das Gedachte, gestalt- und farblos Unvorhandene. Alle die Züge, Umrisse und Farben, die der Individualität ihre feste, bestimmte und erkennbare künstlerische Gestalt verleihen, hatte der Dichter der politisch gesonderten und staatlich zusammengepreßten Gesellschaft zu entnehmen, nicht aber der Individualität selbst, die in der Berührung mit anderen Individualitäten sich selbst zeichnet und färbt. Die somit nur gedachte , nicht dargestellte Individualität konnte daher auch nur an den Gedanken , nicht an das unmittelbar erfassende Gefühl dargestellt werden. Unser Drama war daher ein Appell an den Verstand , nicht an das Gefühl. Es nahm somit die Stelle des Lehrgedichtes ein, welches einen dem Leben entnommenen Stoff nur so weit darstellt, als es der Absicht entspricht, einen Gedanken dem Verstande zur Mitteilung zu bringen. Zur Mitteilung eines Gedankens an den Verstand hat der Dichter aber ebenso umständlich zu verfahren, als er gerade höchst einfach und schlicht zu Werke gehen muß, wenn er sich an das unmittelbar empfangende
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