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Oper und Drama

Oper und Drama

Titel: Oper und Drama Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Wagner
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Gefühl wendet. Das Gefühl erfaßt nur das Wirkliche, sinnlich Betätigte und Wahrnehmbare: an das Gefühl teilt sich nur das Vollendete, Abgeschlossene, das, was so eben ganz das ist, was es jetzt sein kann, mit. Nur das mit sich Einige ist ihm verständlich; das mit sich Uneinige, noch nicht wirklich und bestimmt sich Kundgebende, verwirrt das Gefühl und nötigt es zum Denken, also zu einem kombinierenden Akte, der das Gefühl aufhebt.
    Der Dichter, der sich an das Gefühl wendet, muß, um sich ihm überzeugend kundzugeben, im Denken bereits so einig mit sich sein, daß er aller Hülfe des logischen Mechanismus sich begeben und mit vollem Bewußtsein sich an das untrügliche Empfängnis des unbewußten, reinmenschlichen Gefühles mitteilen kann. Er hat bei dieser Mitteilung daher so schlicht und (vor der sinnlichen Wahrnehmung) unbedingt zu verfahren, wie dem Gefühle gegenüber die wirkliche Erscheinung – wie Luft, Wärme, Blume, Tier, Mensch – sich kundgibt. Um das höchste Mitteilbare und zugleich überzeugend Verständlichste – die rein menschliche Individualität – durch seine Darstellung mitzuteilen, hat aber der moderne dramatische Dichter, wie ich zeigte, gerade entgegengesetzt zu verfahren. Aus der ungeheuren Masse ihrer wirklichen Umgebung, im ersichtlich Maß, Form und Farbe gebenden Staate und der zum Staate erstarrten Geschichte, hat er diese Individualität erst unendlich mühsam herauszukonstruieren, um sie endlich, wie wir sahen, immer nur dem Gedanken darzustellen. [Fußnote: Goethe suchte im Egmont diese, im Verlaufe des ganzen Stückes aus der historisch-staatlich bedingenden Umgebung mit mühsamer Umständlichkeit losgelöste, in der Kerkereinsamkeit und unmittelbar vor dem Tode sich einigende reinmenschliche Individualität dem Gefühle darzustellen und mußte deshalb zum Wunder und zur Musik greifen. Wie bezeichnend ist es, daß gerade der idealisierende Schiller diesen ungemein bedeutungsvollen Zug von Goethes höchster künstlerischer Wahrhaftigkeit nicht verstehen konnte! Wie irrtümlich war es aber auch von Beethoven, daß er nicht erst zu dieser Wundererscheinung, sondern von vornherein, mitten in die politisch-prosaische Exposition – zur Unzeit – Musik setzte!] Das, was unser Gefühl von vornherein unwillkürlich erfaßt, ist einzig die Form und Farbe des Staates. Von unseren ersten Jugendeindrücken an sehen wir den Menschen nur in der Gestalt und dem Charakter, die ihm der Staat gibt; die durch den Staat ihm anerzogene Individualität gilt unserem unwillkürlichen Gefühle als sein wirkliches Wesen; wir können ihn nicht anders fassen als nach den unterscheidenden Qualitäten, die in Wahrheit nicht seine eigenen, sondern die durch den Staat ihm verliehenen sind. Das Volk kann heutzutage den Menschen nicht anders fassen als in der Standesuniform, in der es ihn sinnlich und leibhaftig von Jugend auf vor sich sieht, und dem Volke teilt sich der »Volksschauspieldichter« auch nur verständlich mit, wenn er es nicht einen Augenblick aus dieser staatsbürgerlichen Illusion reißt, die sein unbewußtes Gefühl dermaßen befangen hält, daß es in die höchste Verwirrung gesetzt werden müßte, wenn man ihm unter dieser sinnlichen Erscheinung den wirklichen Menschen hervorkonstruieren wollte. [Fußnote: Es müßte dem Volke gehen wie den beiden Kindern, die vor einem Gemälde standen, das Adam und Eva darstellte, und die nicht unterscheiden konnten, wer der Mann und wer die Frau sei, weil sie unbekleidet waren. Wie bestimmend für alle unsere Anschauung ist es wiederum, daß unser Auge gemeiniglich durch den Anblick einer unverhüllten menschlichen Gestalt in die peinlichste Verlegenheit gesetzt wird und wir sie sogar gewöhnlich garstig finden: unser eigener Leib wird uns erst durch Nachdenken verständlich!] Um die reinmenschliche Individualität darzustellen, hat der moderne Dichter sich daher nicht an das Gefühl , sondern an den Verstand zu wenden, wie sie für ihn selbst ja auch nur eine gedachte ist. Hierzu muß sein Verfahren ein ungeheuer umständliches sein: er muß alles das, was das moderne Gefühl als das Begreiflichste faßt, sozusagen vor den Augen dieses Gefühles langsam und höchst vorsichtig seiner Hülle, seiner Form und Farbe entkleiden, um während dieser Entkleidung, nach systematischer Berechnung, das Gefühl nach und nach zum Denken zu bringen, da die von ihm gewollte Individualität endlich nur eine gedachte sein kann. So muß der Dichter aus dem

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