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Oper und Drama

Oper und Drama

Titel: Oper und Drama Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Wagner
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durch die Gesellschaft ihre förderndste Rechtfertigung erhält. –
    Die unerschöpfliche Mannigfaltigkeit der Beziehungen lebendiger Individualitäten zueinander, die unendliche Fülle stets neuer und in ihrem Wechsel immer genau der Eigentümlichkeit dieser lebenvollen Beziehungen entsprechender Formen, sind wir gar nicht imstande auch nur andeutungsweise uns vorzustellen, da wir bis jetzt alle menschlichen Beziehungen nur in der Gestalt geschichtlich überlieferter Berechtigungen und nach ihrer Vorausbestimmung durch die staatlich ständische Norm wahrnehmen können. [Fußnote: Die Individualität, die uns der Staat läßt, wird uns heute durch das Signalement eines polizeilichen Reisepasses bescheinigt – wenn wir staatsgetreu, oder durch das eines Steckbriefes – wenn wir staatsungetreu sind. Der Staat übernimmt hiermit durch die Polizei die Mühe des Dichters und Charakteristikers. ] Den unübersehbaren Reichtum lebendiger individueller Beziehungen vermögen wir aber zu ahnen, wenn wir sie als reinmenschliche, immer voll und ganz gegenwärtige fassen, d. h., wenn wir alles Außermenschliche oder Ungegenwärtige, was als Eigentum und geschichtliches Recht im Staate zwischen jene Beziehungen sich gestellt, das Band der Liebe zwischen ihnen zerrissen, sie entindividualisiert, ständisch uniformiert und staatlich stabilisiert hat, aus ihnen weit entfernt denken.
    In höchster Einfachheit können wir uns jene Beziehungen aber wiederum vorstellen, wenn wir die unterscheidendsten Hauptmomente des individuellen menschlichen Lebens, welches aus sich auch das gemeinsame Leben bedingen muß, als charakteristische Unterscheidungen der Gesellschaft selbst zusammenfassen, und zwar als Jugend und Alter, Wachstum und Reife, Eifer und Ruhe, Tätigkeit und Beschaulichkeit, Unwillkür und Bewußtsein .
    Das Moment der Gewohnheit , welches wir am naivsten im Festhalten sozial-sittlicher Begriffe, in seiner Verhärtung zur staatspolitischen Moral aber als vollständig der Entwickelung der Individualität feindselig und endlich als entsittlichend und das Reinmenschliche verneinend erkannten, ist als ein unwillkürlich menschliches dennoch wohlbegründet. Untersuchen wir aber näher, so fassen wir in ihm nur ein Moment der Vielseitigkeit der menschlichen Natur, die sich im Individuum nach seinem Lebensalter bestimmt. Ein Mensch ist nicht derselbe in der Jugend wie im Alter: in der Jugend sehnen wir uns nach Taten, im Alter nach Ruhe. Die Störung unserer Ruhe wird uns im Alter ebenso empfindlich als die Hemmung unserer Tätigkeit in der Jugend. Das Verlangen des Alters rechtfertigt sich von selbst aus der allmählichen Aufzehrung des Tätigkeitstriebes, deren Gewinn Erfahrung ist. Die Erfahrung ist an sich aber wohl genuß- und lehrreich für den Erfahrenen selbst; für den belehrten Unerfahrenen kann sie aber dann nur von bestimmendem Erfolge sein, wenn entweder dieser von leicht zu bewältigendem, schwachem Tätigkeitstriebe ist oder die Punkte der Erfahrung ihm als verpflichtende Richtschnur für sein Handeln zwangsweise auferlegt würden – nur durch diesen Zwang ist aber der natürliche Tätigkeitstrieb des Menschen überhaupt zu schwächen; diese Schwächung, die uns beim oberflächlichen Hinblick als eine absolute, in der menschlichen Natur an sich begründete erscheint, und aus der wir somit unsere zur Tätigkeit wiederum anhaltenden Gesetze zu rechtfertigen suchen, ist daher nur eine bedingte. –
    Wie die menschliche Gesellschaft ihre ersten sittlichen Begriffe aus der Familie empfangen hat, trug sich in sie auch die Ehrfurcht vor dem Alter über: diese Ehrfurcht war in der Familie aber eine durch die Liebe hervorgerufene, vermittelte, bedingte und motivierte; der Vater liebte vor allem seinen Sohn, riet ihm aus Liebe, ließ ihn aus Liebe aber auch gewähren. In der Gesellschaft verlor sich diese motivierende Liebe aber ganz in dem Grade, als die Ehrfurcht von der Person ab sich auf Vorstellungen und außermenschliche Dinge bezog, die – an sich unwirklich – zu uns nicht in der lebendigen Wechselwirkung standen, in der die Liebe die Ehrfurcht zu erwidern, d. h. die Furcht von ihr zu nehmen, vermag. Der zum Gott gewordene Vater konnte uns nicht mehr lieben; der zum Gesetz gewordene Rat der Eltern konnte uns nicht mehr frei gewähren lassen; die zum Staat gewordene Familie konnte uns nicht mehr nach der Unwillkür der Billigung der Liebe, sondern nach den Satzungen kalter Sittlichkeitsverträge beurteilen. Der

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