Oper und Drama
Staat dringt uns – nach seiner verständigsten Auffassung – die Erfahrungen der Geschichte als Richtschnur für unser Handeln auf: wahrhaftig handeln wir aber nur, wenn wir aus unwillkürlichem Handeln selbst zur Erfahrung gelangen; eine durch Mitteilung uns gelehrte Erfahrung wird für uns zu einer erfolgreichen erst, wenn wir durch unwillkürliches Handeln sie wiederum selbst machen. Die wahre vernünftige Liebe des Alters zur Jugend bestätigt sich also dadurch, daß es seine Erfahrungen nicht zu dem Maße für das Handeln der Jugend macht, sondern sie selbst auf Erfahrung anweist, und dadurch seine eigenen Erfahrungen bereichert; denn das Charakteristische und Überzeugende einer Erfahrung ist eben das Individuelle an ihr, das Besondere, Kenntliche , was sie dadurch erhält, daß sie aus dem unwillkürlichen Handeln dieses einen, besonderen Individuums in diesem einen und besonderen Falle gewonnen ward.
Der Untergang des Staates heißt daher so viel als der Hinwegfall der Schranke, welche durch die egoistische Eitelkeit der Erfahrung als Vorurteil gegen die Unwillkür des individuellen Handelns sich errichtet hat. Diese Schranke nimmt gegenwärtig die Stellung ein, die naturgemäß der Liebe gebührt, und sie ist nach ihrem Wesen die Lieblosigkeit , d. h. das Eingenommensein der Erfahrung von sich, und der endlich gewaltsam durchgesetzte Wille, nichts Weiteres mehr zu erfahren, die eigensüchtige Borniertheit der Gewöhnung, die grausame Trägheit der Ruhe. – Durch die Liebe weiß aber der Vater, daß er noch nicht genug erfahren hat, sondern daß er an den Erfahrungen seines Kindes, die er in der Liebe zu ihm zu seinen eigenen macht, sich unendlich zu bereichern vermag. In der Fähigkeit des Genusses der Taten anderer, deren Gehalt es durch die Liebe für sich zu einem genießenswürdigen und genußgebenden Gegenstand zu machen weiß, besteht die Schönheit der Ruhe des Alters. Diese Ruhe ist da, wo sie durch die Liebe naturgemäß vorhanden ist, keinesweges eine Hemmung des Tätigkeitstriebes der Jugend, sondern seine Förderung. Sie ist das Raumgeben an die Tätigkeit der Jugend in einem Elemente der Liebe, das an der Beschauung dieser Tätigkeit zu einer höchsten künstlerischen Beteiligung an ihr selbst, zum künstlerischen Lebenselemente überhaupt wird.
Das bereits erfahrene Alter ist vermögend, die Taten der Jugend, in welchen diese nach unwillkürlichem Drange und mit Unbewußtsein sich kundgibt, nach ihrem charakteristischen Gehalte zu fassen und in ihrem Zusammenhange zu überblicken: es vermag diese Taten also vollkommener zu rechtfertigen als die handelnde Jugend selbst, weil es sie sich zu erklären und mit Bewußtsein darzustellen weiß. In der Ruhe des Alters gewinnen wir somit das Moment höchster dichterischer Fähigkeit , und nur der jüngere Mann vermag sich diese schon anzueignen, der jene Ruhe gewinnt , d. h. jene Gerechtigkeit gegen die Erscheinungen des Lebens. –
Die Liebesermahnung des Erfahrenen an den Unerfahrenen, des Ruhigen an den Leidenschaftlichen, des Beschauenden an den Handelnden, gibt sich am überzeugendsten und erfolgereichsten durch getreue Vorführung des eigenen Wesens des unwillkürlich Tätigen an diesen mit. Der in unbewußtem Lebenseifer Befangene wird nicht durch allgemeine sittliche Ermahnung zur urteilfähigen Erkenntnis seines Wesens gebracht, sondern vollständig kann dies nur gelingen, wenn er in einem vorgeführten treuen Bilde sich selbst zu erblicken vermag; denn die richtige Erkenntnis ist Wiedererkennung, wie das richtige Bewußtsein Wissen von unserem Unbewußtsein. Der Ermahnende ist der Verstand , das bewußte Anschauungsvermögen des Erfahrenen: das zu Ermahnende ist das Gefühl , der unbewußte Tätigkeitstrieb des Erfahrenden. Der Verstand kann nichts anderes wissen als die Rechtfertigung des Gefühles , denn er selbst ist nur die Ruhe, welche der zeugenden Erregung des Gefühles folgt: er selbst rechtfertigt sich nur, wenn er aus dem unwillkürlichen Gefühle sich bedingt weiß, und der aus dem Gefühle gerechtfertigte, nicht mehr im Gefühle dieses einzelnen befangene, sondern gegen das Gefühl überhaupt gerechte Verstand ist die Vernunft . Der Verstand ist als Vernunft insofern dem Gefühle überlegen, als er die Tätigkeit des individuellen Gefühles in der Berührung mit seinem ebenfalls aus individuellem Gefühle tätigen Gegenstande und Gegensatze allgerecht zu beurteilen vermag: er ist die höchste soziale, durch die
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