Operation Amazonas
Virginia
Lauren O’Brien hatte sich tief über das Mikroskop gebeugt, als der Anruf aus der Leichenhalle eintraf. »Mist«, sagte sie, verärgert über die Störung. Sie richtete sich auf, schob die Lesebrille, die sie sich in die Haare gesteckt hatte, auf die Nase und schaltete die Freisprechfunktion des Telefons ein.
»Hier ist die Histologie«, sagte sie.
»Dr. O’Brien, ich glaube, Sie sollten herkommen und sich das ansehen.« Sie kannte den Anrufer; es war Stanley Hibbert, der forensische Pathologe von der Johns Hopkins University, der für MEDEA arbeitete. Man hatte ihn gebeten, der Autopsie von Gerald Clark beizuwohnen.
»Ich bin mit einer Gewebeprobe beschäftigt. Ich habe gerade damit angefangen.«
»Und, hatte ich Recht mit den oralen Läsionen?«
Lauren seufzte. »Ihre Beurteilung war zutreffend. Ein squamöses Zellkarzinom. Aufgrund des hohen Grads der Mitose und des Differenzierungsmangels würde ich auf höchste Bösartigkeit schließen. Einer der schlimmsten Fälle, die mir je untergekommen sind.«
»Dann wurde dem Opfer die Zunge also nicht herausgeschnitten . Der Krebs hat sie weggefressen .«
Lauren unterdrückte einen unprofessionellen Schauder. Die Mundhöhle des Toten war voller Tumore gewesen, die Zunge nurmehr ein blutiger Stumpf, von Karzinomen zerfressen. Aber das war längst noch nicht alles. Bei der Autopsie hatte man überall in seinem Leichnam Krebsgeschwüre in unterschiedlichen Stadien gefunden. Befallen waren unter anderem Lunge, Nieren, Leber, Milz und Bauchspeicheldrüse. Lauren blickte auf den Stapel von Gewebeschnitten, die das histologische Labor angefertigt hatte. Jede Probe enthielt Teile unterschiedlicher Tumore oder Knochenmarksflüssigkeit.
»Können Sie sagen, wann der Mundkrebs ausgebrochen ist?«, fragte der Pathologe.
»Die Frage ist schwer zu beantworten, aber ich schätze, der Ausbruch der Krankheit liegt sechs bis acht Wochen zurück.«
Aus dem Lautsprecher drang ein anerkennendes Pfeifen. »Ein verdammt schneller Verlauf!«
»Ich weiß. Und die anderen Proben, die ich mir bislang angeschaut habe, zeigen einen ähnlich hohen Grad an Bösartigkeit. Ich finde keinen einzigen Tumor, der älter als drei Monate ist.« Sie berührte den vor ihr liegenden Stapel. »Andererseits muss ich mir noch einige Proben anschauen.«
»Wie sieht es bei den Teratomen aus?«
»Genauso. Alle ein bis drei Monate alt. Aber –«
»Mein Gott«, fiel Dr. Hibbert ihr ins Wort, »das ergibt keinen Sinn. So viele Tumore habe ich noch nie bei einer einzigen Person gefunden. Erst recht nicht so viele Teratome.«
Lauren konnte seine Bestürzung gut nachvollziehen. Teratome waren zystische Tumore der embryonalen Stammzellen, jener Keimzellen, die zu Körpergewebe auswachsen konnten; zu Muskeln, Haar, Knochen. Geschwülste dieser Zellen wurden zumeist in bestimmten Organen gefunden, zum Beispiel in der Thymusdrüse oder in den Hoden. Bei Gerald Clark waren sie jedoch im ganzen Körper verteilt gewesen – und auch das war noch nicht alles.
»Stanley, das sind keine einfachen Teratome. Das sind Teratokarzinome.«
»Was? Trifft das auf alle zu?«
Sie nickte, dann wurde ihr bewusst, dass sie ja telefonierte. »Auf jede einzelne Geschwulst.« Teratokarzinome waren die bösartige Form des Teratoms, ein heftig wuchernder Krebs, der eine Mischung aus Muskeln, Haar, Zähnen, Knochen und Nerven hervorbrachte. »Ich habe solche Gewebeproben noch nie gesehen. Manche der Geschwülste ähnelten unvollständigen Lebern, Hodengewebe oder sogar Nervenknoten.«
»Das könnte eine Erklärung sein für unsere Entdeckung«, sagte Stanley.
»Was meinen Sie damit?«
»Wie ich anfangs schon sagte, Sie sollten herkommen und es sich anschauen.«
»Ist gut«, erwiderte sie seufzend. »Bin gleich da.«
Lauren unterbrach die Verbindung und stieß sich vom Mikroskopiertisch ab. Sie streckte sich, denn nachdem sie sich zwei Stunden lang über die Proben gebeugt hatte, fühlte sie sich ganz verspannt. Sie überlegte, ob sie ihren Mann anrufen sollte, doch der hatte vermutlich im CIA-Hauptquartier zu tun. Außerdem würde sie sich in einer Stunde mit ihm austauschen können, wenn die Konferenzschaltung mit Frank und Kelly stand.
Sie streifte den Laborkittel über, wandte sich zur Tür und stieg zur Leichenhalle des Instituts hinunter. Dabei wurde sie von leichter Beklommenheit erfasst. Obwohl sie zehn Jahre lang als Notärztin gearbeitet hatte, machten Autopsien sie noch immer nervös. Die saubere Histologieabteilung zog sie den
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