Operation Amazonas
Knochensägen, den Edelstahltischen und den Hängewaagen vor. Heute aber hatte sie keine Wahl.
Als sie sich über den langen Gang der Schwingtür näherte, lenkte sie sich damit ab, dass sie über den geheimnisvollen Fall nachdachte. Gerald Clark war vier Jahre lang vermisst gewesen und dann auf einmal mit einem nachgewachsenen Arm aus dem Dschungel aufgetaucht, was man wohl als Wunderheilung bezeichnen musste. Ansonsten war sein Körper von Tumoren verwüstet gewesen, infolge einer Krebserkrankung, die erst drei Monate zuvor ausgebrochen war. Was aber hatte die plötzliche Krebserkrankung ausgelöst? Was war die Ursache des gehäuften Auftretens von Teratokarzinomen? Und wo zum Teufel hatte Gerald Clark die vier Jahre über gesteckt?
Sie schüttelte den Kopf. Für Antworten war es noch zu früh. Doch sie hatte Vertrauen in die moderne Wissenschaft. Ihre eigenen Untersuchungen und die von ihren Kindern geleistete Feldarbeit würden das Rätsel lösen.
Lauren betrat die Umkleidekabine, streifte sich blaue Papierschützer über die Schuhe, dann schmierte sie sich etwas Wick VapoRup unter die Nase und legte die Operationsmaske an. Als sie fertig war, trat sie ins Labor.
Darin sah es aus wie in einem Horrorfilm. Gerald Clarks Leichnam war aufgeschlitzt wie ein Frosch im Biologieunterricht. Die eine Hälfte des Inhalts seiner Körperhöhlen war in orangefarbenen Beuteln für Sondermüll verstaut, der Rest lag auf stählernen Waagen. An der anderen Seite des Raums wurden Gewebeproben in Formaldehyd und flüssigem Stickstoff eingelegt. Das Endergebnis dieser Prozesse würde Lauren schließlich in Form von säuberlich beschrifteten und eingefärbten Mikroschnitten vorgelegt werden, so wie sie es gern hatte.
Einige der stärkeren Gerüche überdeckten den Mentholgeruch der Salbe: Desinfektionsmittel, Blut, der Gestank der Eingeweide und Verwesungsgase. Sie bemühte sich, durch den Mund zu atmen.
Männer und Frauen mit blutigen Schürzen arbeiteten im Labor, unempfänglich für das Grauen. Alles ging ganz nüchtern vonstatten, ein makaberer Tanz von Profis.
Ein hoch gewachsener, äußerst hagerer Mann hob grüßend den Arm und winkte sie zu sich. Lauren nickte und zwängte sich an einer Frau vorbei, die gerade Gerald Clarks Leber von einer Hängewaage nahm und in einen Abfallbeutel steckte.
»Was haben Sie herausgefunden, Stanley?«, fragte Lauren, als sie sich dem Arbeitstisch näherte.
Dr. Hibbert deutete auf den Tisch, seine Stimme durch die OP-Maske gedämpft. »Ich wollte Ihnen das zeigen, bevor wir es herausschneiden.«
Sie standen am Kopfende des geneigten Tisches, auf dem Gerald Clarks Leichnam lag. Gallenflüssigkeit, Blut und andere Körperflüssigkeiten tropften am Fußende in einen Eimer. Gerald Clarks Kopf war aufgesägt, sodass man das bloßgelegte Gehirn sah.
»Schauen Sie«, sagte Stanley und beugte sich auf das purpurfarbene Gehirn hinunter.
Mit einer Pinzette zog der Pathologe behutsam die Hirnhaut zurück, als öffnete er einen Vorhang. Nun sah man die Faltungen der Großhirnrinde, durchzogen von dunklen Adern.
»Als wir die Hirnschale öffneten, haben wir das hier entdeckt. «
Dr. Hibbert teilte die beiden Gehirnhälften. In der dazwischen liegenden Höhlung befand sich eine walnussgroße Masse. Sie schien auf dem Corpus callosum zu ruhen, einem weißlichen Kanal von Nerven und Blutgefäßen, welche die beiden Hälften miteinander verbanden.
Stanley sah Lauren an. »Das ist ein weiteres Teratom … oder vielleicht auch ein Teratokarzinom, wenn es den anderen gleicht. Aber schauen Sie hier. So etwas habe ich noch nicht gesehen.« Er berührte den Klumpen mit der Pinzette.
»Mein Gott!« Lauren wich unwillkürlich zurück, als der Tumor vor der Pinzettenspitze zurückzuckte. »Es … es bewegt sich!«
»Erstaunlich, nicht wahr? Deshalb wollte ich, dass Sie es sich ansehen. Ich habe von dieser Eigenschaft einiger Teratome bereits gelesen. Sie besitzen die Fähigkeit, auf externe Reize zu reagieren. Es gab sogar den Fall eines stark differenzierten Teratoms, das über genügend Muskelmasse verfügte, um wie ein Herz zu schlagen.«
Lauren fand endlich ihre Stimme wieder. »Aber Gerald Clark ist seit zwei Wochen tot.«
Stanley zuckte die Schultern. »Ich vermute, dass diese Geschwulst über zahlreiche Nervenzellen verfügt. Ein großer Teil davon ist offenbar noch so lebensfähig, dass sie auf Stimuli schwach reagieren. Ich nehme an, dass diese Fähigkeit in dem Maße, wie die Nerven Flüssigkeit verlieren und
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