Operation Arche - 1
ihm. Sie hat ihn nicht in Versuchung geführt, indem sie ihm Macht über seine Mitmenschen versprochen hat, sondern damit, dass sie ihm versprach, dereinst könnten alle Menschen, überall auf Safehold, selbst die Macht der Erzengel erlangen. Dass ihre Kinder, ihre Gemahlinnen, ihre Väter und Mütter, all ihre Freunde und Nachbarn, selbst zu Engeln Gottes werden könnten, wenn sie doch nur die Hand nach dem ausstreckten, was sie ihnen versprach.
Und so kommt es, dass selbst gute Menschen dem Bösen die Tür öffnen können. Ich sage euch nicht, meine Kinder, dass es keine bösen Menschen gibt! Ich sage euch nicht, dass all jene, die dem Betrug anheim fallen, dem Diebstahl, dem Mord und dem Verrat, dies nur tun, weil sie gute Menschen wären, die in die Irre geleitet wurden. Ich sage euch nur, dass alle Menschen ihr Leben als gute Menschen beginnen. Was man sie als Kinder lehrt, was man von ihnen als junge Menschen erwartet, ist entweder die Rüstung, die dieses Gute schützt, oder der Makel daran, durch den das Böse einzudringen vermag.«
Merlin legte die Hand auf die Scheide seines Katana und blickte ausdruckslos geradeaus. Die Stimme des Bischofs war mitfühlend und fürsorglich, und doch stammte alles, was er hier sagte, geradewegs aus den Doktrinen und der Theologie der Kirche des Verheißenen. Aber andererseits …
»Und doch dürfen wir niemals unsere Verantwortung vergessen, sie in der richtigen Weise zu lehren. Sie zu strafen, wenn es der Strafe bedarf, ja, aber auch Sanftmut und Liebe walten zu lassen, wann immer uns das möglich ist. Zu wissen, dass das, was wir strafen, auch tatsächlich falsch ist. Und unsere Kinder zu lehren, selbst Unrecht von Recht zu unterscheiden. Sie zu lehren, mit klarem Blick und unumwölktem Herzen ihr Urteil zu fällen, ohne jede Furcht. Sie zu lehren, das es bedeutungslos ist, wer ihnen sagt, etwas sei ›falsch‹ oder ›richtig‹, sondern nur, ob etwas richtig oder falsch ist. Sie zu lehren, dass die Welt ein gewaltiger, wundersamer Ort ist, der zahllose Herausforderungen birgt, zahllose Versprechungen und zahllose Aufgaben, an denen sich ein jeder Sterblicher messen kann. Sie zu lehren, dass, um Gott wahrlich erkennen zu können, sie Ihn in sich selbst finden müssen, und in dem Leben, das sie Tag für Tag leben.«
Ein Raunen durchfuhr die Kathedrale, auch wenn es mehr zu spüren als zu hören war, und Merlin zuckte fast zusammen, als er begriff, welch unerwartete Richtung Maikels Text genommen hatte. In vielerlei Hinsicht war diese Wendung vielleicht kaum von Bedeutung – aber eben nicht hier, nicht in einer Predigt des dritthöchsten Prälaten von ganz Charis!
Die Kirche des Verheißenen bekannte sich zwar zu einer persönlichen Beziehung zwischen Gott und jedem einzelnen Seiner Kinder, doch sie forderte diese Kinder nicht auf, diese Beziehung selbsttätig zu suchen. Allein der Kirche kam die Funktion zu, zu lehren und zu informieren, für die Gläubigen in Dekrete zu fassen, was Gott von ihnen wünscht und ihre ›persönliche‹ Beziehung zu Ihm zu definieren. Die Heilige Schrift wies nicht ausdrücklich auf die Unfehlbarkeit der Kirche hin – auch wenn sie die Unfehlbarkeit der ›Erzengel‹ mehr als einmal betonte –, doch die Doktrin der Kirche sprach eben diese Unfehlbarkeit auch jedem ihrer Vikare zu, die doch die Erben der Autorität eben jener Erzengel waren.
Maikel hatte diese Doktrin nicht offen in Frage gestellt: Er hatte lediglich darauf hingewiesen, dass auch die besten Lehrer scheitern konnten. Doch zugleich besagte es auch, dass diese Lehrer irren konnten. Und so ließen sich seine Worte durchaus als Angriff auf die Unfehlbarkeit der Kirche im Allgemeinen auslegen, die doch der Lehrer eines jeden Safeholdianers war. Vor allem hier in Charis, wo unabhängiges Denken sogar offen gefördert wurde.
»Wir mühen uns, all unseren Kindern diese Lehren nahezubringen«, fuhr der Bischof ruhig fort, als sei er sich in keiner Weise bewusst, irgendetwas Außergewöhnliches ausgesprochen zu haben, »und gelegentlich scheitern wir, all unseren Bemühungen zum Trotz. Es gibt das Böse in der Welt, Meine Kinder. Es findet sich überall, in vielen Menschen, es vermag geduldig zu warten, und die Fallen, die es stellt, sind stets tückisch. Menschen – stark oder schwach, von adligem Geblüt oder aus dem einfachen Volk, reich oder arm – tappen in diese Fallen, und damit verfallen sie der Sünde, und es ist unsere Pflicht, als Volk Gottes, die Sünde zu
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