Operation Blackmail
170 Schlägen pro Minute in ihrer Brust. Die Luft war
klar, und es roch nach Schnee und Laub. Der Vondelpark flog an ihr vorbei, als
sie zum vierten Mal den Eingang passierte. Kilometer 8, und weiter, nur nicht
aufhören, denk nicht an die Schmerzen. Sie rannte, um zu vergessen, um wieder
einen freien Kopf zu bekommen. Die Erinnerung an Dominique zu verdrängen, wie
sein Herz in ihren Armen aufgehört hatte zu schlagen. Die Bilder drängten sich
wie böse Geister in den Vordergrund: eine Spezialeinheit der Athener Polizei,
Sturmgewehre im Anschlag. Der Schein von erbarmungslos geführten grellen
Lampen, die jedem Schwenk der Waffen folgten. Griechische Worte, gellend und
hart. Dann die Sanitäter, die ihr Dominique entreiÃen, ihn auf den Boden
drücken, seinen Oberkörper verkabeln. Dieser gemeine Ton, lang anhaltend, das Geräusch
des Todes. Als sie das sirrende Gerät auf seine Brust setzen, zuckt sein
Körper. Dreimal, viermal. Die Ãrzte spritzen eine helle Flüssigkeit, klar wie
Wasser, direkt in sein Herz. Sie rammen ihm die Nadel in den Brustkorb. Noch einmal
zuckt sein schmächtiger Körper. Nach einer halben Ewigkeit ersetzt ein
langsamer, unendlich zarter Rhythmus den endlosen Ton. Dann hustet Dominique.
Der Blick des Sanitäters triumphierend, sie ungläubig. Ihre Tränen bekommen
einen neuen Sinn: Hoffnung.
Solveigh beschleunigte ihre Schritte noch einmal. Sie wollte nicht
daran erinnert werden, was danach kam. Aber selbst der harte Lauf war nicht
stark genug, die Bilder waren mächtiger. Ihr Rückflug mit einer
Militärmaschine, ein fliegendes Lazarett. Das Koma. Er würde nie mehr laufen können,
haben sie gesagt, selbst wenn er wieder aufwacht. Wenn. Ihre Schuld. Der Puls
stieg auf ungesunde 188, es war ihr egal. Wenn sie jetzt einen Herzinfarkt
bekam, hier in dem pittoresken Park, dann sollte es so sein. Erst bei Kilometer
10 gab sie sich zufrieden. Erschöpft, leer, keine Bilder mehr und keine
Gedanken. Selbsttherapie einer Läuferin. Die Schmerzen ihrer überforderten
Muskeln übertönten die ihrer Seele. Für den Moment. Aber das piepsende Geräusch
von Dominiques EKG verfolgte sie. Erst einen Augenblick später realisierte sie,
dass es ihr Handy war, das klingelte: sie hatte eine SMS bekommen. Mit klammen
Fingern rief sie die Nachricht auf.
Â
Churchill hat gesagt: Wahrer Erfolg
ist, von einem Fehler zum nächsten zu stolpern, ohne Enthusiasmus einzubüÃen.
Denk drüber nach. M.
Ausgepumpt blieb sie stehen. Marcel. Für einen kurzen
Moment zauberte sein Zitat sogar ein Lächeln auf ihre Lippen. Trotz allem. Und
deshalb tippte sie ihm eine kurze Antwort:
Â
Ich werde mir Mühe geben, weiter
Fehler zu begehen, da mach dir keine Sorgen. Und vielleicht wirst sogar du mein
gröÃter, wir werden sehen. slang.
Die letzten Meter zu ihrer Wohnung in der Keizersgracht
ging sie im Schritttempo, sie hatte es nicht eilig, ins Büro zu kommen.
Vierzig Minuten später betrat sie die Räume der ECSB im
Amstel Business Park. Als sie die langen Gänge des GroÃraumbüros hinunterging,
klopften ihr etliche Kollegen aufmunternd auf die Schulter. Sie spürte es kaum.
Ihr kleines Büro, das sie mit Eddy teilte, war verwaist, die anderen saÃen
wahrscheinlich alle schon im Konferenzraum. Seufzend stellte Solveigh ihre
Tasche ab und atmete tief durch. Eddy hatte ihr einen Kaffee auf den
Schreibtisch gestellt, wofür sie ihm sehr dankbar war. Sie hielt ihre feine
Nase über die dampfende Tasse und genoss den karamelligen Duft, dann trank sie
einen Schluck. Die heiÃe Flüssigkeit tat gut. Fast fünf Minuten blieb sie
regungslos sitzen, bevor sie sich auf den Gang nach Canossa machte.
In der Einsatzzentrale war die Stimmung auf dem Tiefpunkt.
Selbst Eddy war ruhig und kaute auf dem Ende eines Kugelschreibers, Thater lief
wortlos im Kreis. Jedoch vernahm Solveigh kein Wort des Vorwurfs, als sie ihren
Stammplatz einnahm. Das war auch nicht notwendig, denn Vorwürfe machte sie sich
selbst zur Genüge. Sie konnte Eddy kaum in die Augen schauen, sie hatte ihn
belogen und benutzt, ausgerechnet den Mann, der sie aus der Gosse geholt und
niemals irgendwelche Forderungen gestellt hatte. Solveigh fühlte sich
schrecklich. Erst nachdem sie ein paar Minuten in ihren Laptop gestarrt hatte,
traute sie sich, eine Frage in die Runde zu stellen: »Etwas Neues von Dominique?«
»Er ist aus dem Koma
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