Operation Romanow
eine psychisch labile Frau. Als sie 1920 aus einem Kanal in Berlin gezogen und in eine psychiatrische Klinik eingewiesen wurde, hatte sie keine Papiere bei sich, durch die sie sich identifizieren konnte. Sie weigerte sich zu sagen, wer sie war. Doch sie schien so detaillierte Kenntnisse über die russische Zarenfamilie zu besitzen, dass ihre Unterstützer immer behaupteten, sie sei tatsächlich die Zarentochter Anastasia, die das Massaker an den Romanows überlebt hat.«
Ich blätterte in dem Buch. »Ihre Geschichte hat Stoff für Filme, ein Broadway-Musical und zahllose Bücher geliefert, nicht wahr?«
Jakow nickte und steckte die Daumen in die Taschen seiner Weste. »Ja, das ist richtig. Sie war eine geheimnisvolle, faszinierende Frau, deren Existenz mehr Fragen aufwarf als beantwortete. Manche behaupten, dass sich das bis heute nicht geändert hat.«
»Sie war gewiss eine rätselhafte Persönlichkeit. Das muss man schon sagen.« Ich stellte das Buch zurück ins Regal und entdeckte einen alten Gedichtband von Yeats mit einem braunen, abgestoßenen Lederumschlag. Ich nahm das Buch, das, wie mir die erste Seite verriet, 1917 veröffentlicht worden war, in die Hand. Ich schlug die mit einem langen braunen Seidenbändchen markierte, abgegriffene Seite auf und las ein paar Zeilen:
Wenn du alt und grau und müde bist
und am Kamin sitzt und ruhst, nimm dieses Buch,
lies ein paar Zeilen und träume von dem sanften Blick,
den deine Augen hatten, und von ihren tiefen Schatten.
Wie viele liebten dich wahrhaftig oder begehrten dich nur,
wenn du vor Anmut und Schönheit erstrahltest,
doch einer liebte deine unstete Seele
und den Kummer auf deinem wechselvollen Gesicht.
»Mögen Sie Yeats?«, fragte Jakow.
Ich sah vom Buch auf. »Dieses Gedicht gefällt mir, aber ich weiß nicht, was es bedeutet.«
»Es hat die Bedeutung, die Sie ihm geben. Yeats schreibt immer über Liebe und Verlust, Erinnerungen und Sehnsucht. Die Russen und die Iren verbinden ihr Hang zur Melancholie und die Liebe zur Poesie.«
Ich klappte das Buch zu und stellte es zurück ins Regal. »Haben Sie Familie, Mr Jakow?«
»Nein, es gibt nur mich. Meine Frau und ich hatten nicht das Glück, Kinder zu bekommen.«
»Sie haben noch immer Ihren russischen Akzent.«
»Ich habe die meiste Zeit meines Lebens in Russland gelebt. Nehmen Sie doch bitte Platz, Dr. Pawlow.« Er zeigte auf einen der verschlissenen Lehnstühle am Kamin und goss duftenden, dampfenden Tee in zwei Gläser.
»Kann ich Ihnen behilflich sein?«
»Ich komme seit vielen Jahren allein zurecht, seitdem meine Frau verstarb. Ich werde es schaffen, bis meine Krankheiten mich besiegen. Zucker? Milch? Oder Sahne, wie Ihr Amerikaner sagt?«
»Keine Sahne, ein Löffel Zucker. Wann werden Sie mir verraten, was hinter diesem Geheimnis steckt, Mr Jakow?«, fragte ich ihn.
Er gab in beide Gläser einen Löffel Zucker, fügte noch ein paar Löffel in sein Glas hinzu und reichte mir dann meinen Tee. Als ich mich in einen der Lehnstühle setzte, nahm Jakow ächzend auf dem gegenüber Platz. »Zuerst muss ich Ihnen mehr über mich erzählen, Dr. Pawlow. Mein Vater war Kommissar Leonid Jakow, der in den Geschichtsbüchern als hoher Funktionär der Geheimpolizei der Bolschewiki, der Tscheka, erwähnt wird. Vielleicht haben Sie mal von ihm gehört?«
Ich wollte gerade einen Schluck heißen Tee trinken, stattdessen hob ich erstaunt den Kopf. »Ja, habe ich. Wenn ich mich nicht täusche, stand er im Ruf, äußerst brutal gewesen zu sein.«
»Eine gewisse Zeit gehörte mein Vater zu den meistgefürchteten Menschen in Russland. Und das zu Recht. Er hat viele schreckliche Dinge getan.« Jakow trank einen Schluck Tee. »Sie erinnern sich an das Grab von Juri Andrew, das Sie vorhin gesehen haben, nicht wahr?«
»Was ist damit?«
»Er und mein Vater hatten eine sehr enge persönliche Bindung.«
»Was denn für eine Bindung?«
»Eine, die viel stärker war, als sie beide es sich hätten vorstellen können, und von der sie lange Zeit nichts wussten. Ein gut gehütetes Familiengeheimnis.«
»Ein Familiengeheimnis? Ich verstehe nicht.«
»Andrews Vater und Leonid Jakows Mutter … Sie hatten ein Verhältnis miteinander. Sie gehörten unterschiedlichen gesellschaftlichen Klassen an, verstehen Sie, aber sie fühlten sich dennoch sehr wohl miteinander. Aus dieser Beziehung ging ein Kind hervor, ein Junge namens Stanislaw. Er war der Bruder von meinem Vater und von Juri Andrew, doch sie erfuhren erst viel
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