Operation Romanow
irgendjemand Ihre Autorität anzweifelt, haben Genosse Lenin und ich ein Schreiben verfasst, das Ihnen unumschränkte Vollmacht gewährt. Werfen Sie mal einen Blick darauf.«
Jakow nahm den Brief entgegen und begann zu lesen.
Kommissar Leonid Jakow von der Tscheka handelt in einer Mission von besonderer Bedeutung. Wenn er Unterstützung von einer militärischen oder zivilen Stelle verlangt, muss ihm diese bedingungslos gewährt werden. Jeder, der diesen Befehl nicht befolgt, wird erschossen.
Unter dem Text erkannte Jakow die Unterschriften von Wladimir Lenin und Leo Trotzki.
Lenin zeigte auf die Wanduhr. Es war halb sechs. »Seit dem Absturz der Maschine sind fast sechsunddreißig Stunden vergangen. Wenn ein fähiger Mann wie Andrew in die Sache verwickelt ist, nehme ich an, dass er schnell weitergekommen ist. Mittlerweile kann er überall sein. In seiner Akte steht, dass seine Frau und sein Sohn in Moskau wohnen.«
»Ja.«
»Nach Andrews Flucht haben Sie ihn in Sankt Petersburg aufgespürt. Es kam zu einer Konfrontation, und es fielen Schüsse, doch er entkam.«
»Ich habe einen Fehler gemacht. Es kommt nicht wieder vor.«
Lenin steckte die Daumen in die Taschen seiner Weste und funkelte Jakow misstrauisch an. In diesem Augenblick wurde die Unerbittlichkeit des Revolutionsführers spürbar. »Davon bin ich überzeugt. Inspektor Kasan wird sicherlich dafür sorgen.«
Er trat ans Fenster und blickte hinaus. »Ihre Frau war ein mutiges und treues Mitglied unserer Partei. Eine wahre Märtyrerin. In Gedenken an sie gebe ich Ihnen eine zweite Chance.«
Jakow starrte in die Ferne, ohne etwas zu erwidern.
Lenin drehte sich wieder zu ihm um. »Sie haben mehr als einen Fehler gemacht, aber das habe ich auch. Ich war dumm und habe mich dazu hinreißen lassen, Andrew zu begnadigen. Er hat uns beide zum Narren gehalten und ist entkommen. Diesmal gibt es keine Gnade, verstanden? Diesmal töten Sie ihn.«
67. KAPITEL
Moskau
Um kurz nach zehn Uhr morgens fuhr der Nachtzug aus Sankt Petersburg ratternd in den Moskauer Bahnhof ein. Er hielt mit quietschenden Bremsen inmitten einer dicken Rauchwolke an.
Andrew sprang aus dem Zug und ließ den Blick über den belebten Bahnhof gleiten. Vergoldete kaiserliche Adler schmückten noch immer die gewölbten Mauern, über einigen hingen rote Banner. Auf den Bahnsteigen drängten sich schäbig gekleidete Bauern mit unglücklichen Mienen und Bündeln, in denen ihre Habseligkeiten steckten.
Sicherheitskräfte der Tscheka oder Kontrollposten sah Andrew nicht. Er zog die Mütze tief in die Stirn und schwang den Seesack über seine Schulter. »So weit, so gut.«
Er griff nach Lydias Arm und führte sie durch die Bahnhofstüren ins Freie. Sie überquerten die belebte Straße, auf der Pferdewagen und motorisierte Taxis unterwegs waren, und gingen auf ein Wirtshaus zu, das nicht besonders einladend aussah. In dem gut besuchten Lokal hielten sich größtenteils Eisenbahnarbeiter, Reisende und ein paar Soldaten außer Dienst auf. Andrew und Lydia setzten sich an einen freien Tisch ans Fenster.
In dem Wirtshaus wurde nur ein wässriger Eintopf mit Pferdefleisch und Kohl angeboten, dazu gab es Schwarzbrot. Andrew bestellte für jeden eine Portion, ein Bier für sich und einen Tee für Lydia.
Nach einer halben Ewigkeit kam der mürrische Kellner mit dem Essen und den Getränken zurück an den Tisch. Andrew trank einen Schluck Bier und musterte Lydia, die beunruhigt zu sein schien. »Was ist los?«, fragte er.
»Es ist ein Wunder, dass wir es bis hierher geschafft haben, ohne dass wir angehalten wurden oder unsere Papiere vorlegen mussten.«
»Der Absturz wird nicht unbemerkt bleiben. Wenn der Mechaniker überlebt hat, wird er inzwischen geredet haben. Das bedeutet, dass sie nach uns suchen. Immerhin kennt er unsere Pläne nicht, doch der Absturz eines großen Flugzeugs wie der Muromez muss zwangsläufig Verdacht erregen. Was macht dein Arm?«
»Erträglich.« Lydia strich über ihren verbundenen linken Unterarm, wo die brennenden Metalltrümmer einen breiten Streifen ihrer Haut versengt hatten. Ansonsten war sie unverletzt. Andrew hatte die Brandwunde in Sankt Petersburg mit Alkohol und Jod gereinigt, desinfiziert und mit Baumwollverbänden verbunden. Zum Glück gab es in der Apotheke alles zu kaufen, was sie dazu brauchten. Lydia war erschöpft, und die Wunde pochte.
Während der vergangenen sechsunddreißig Stunden hatten sie nur wenig Schlaf bekommen. Die Hälfte der Zeit hatten
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