Operation Romanow
sie in einem überfüllten Nachtzug aus Sankt Petersburg verbracht. Sogar die wenigen stinkenden Toiletten waren von Fahrgästen besetzt gewesen. Sie mussten jedes Mal gebeten werden, die Toilette zu räumen, wenn sie gebraucht wurde. Die ganze Nacht über hatte Lydia befürchtet, die Tscheka könnte den Zug anhalten und durchsuchen.
Das Essen schmeckte abscheulich. Lydia konnte sich nicht überwinden, das Pferdefleisch herunterzuwürgen. Sie schob den Teller weg und blickte aus dem Fenster. Es war unglaublich. Inmitten eines brutalen Bürgerkrieges schien das Leben in Moskau seinen gewohnten Gang zu gehen: Straßenbahnen fuhren, Kinos waren geöffnet, und auf einem Laternenpfahl klebte eine Ankündigung für eine Abendvorstellung im Bolschoi-Theater.
Doch wenn man genauer hinsah, entdeckte man zahllose Gebäude mit Einschüssen und die grimmigen Gesichter der Passanten. Die Menschen auf den Straßen und im Wirtshaus wirkten nervös und gehetzt. Vor den wenigen geöffneten Geschäften standen lange Schlangen. Größtenteils waren es ärmlich gekleidete Frauen mit Babys auf dem Arm oder mit Kindern, die sich an ihren Röcken festklammerten.
Andrew stand auf, nachdem er das Essen beendet hatte. »Nicht weit von hier ist eine Straße, in der es eine Reihe von Herbergen gibt. Wir suchen uns ein Zimmer und überlegen, wie es weitergeht.«
Auf einem Schild im Fenster der Herberge stand: ›Gemütliche, gut ausgestattete Zimmer und fließendes Wasser‹. In Wahrheit waren es hässliche Zimmer, die unbedingt gestrichen werden mussten. Die Decken waren vom Zigarettenrauch vollkommen vergilbt.
Die ältliche Besitzerin, eine dürre, nach Wodka stinkende Frau mit Warzen auf den Wangen, begrüßte sie freundlich. Sie führte sie eine Steintreppe hinauf und dann einen tristen Korridor entlang zu einem schäbigen Zimmer mit zwei wackeligen Stühlen und einem schmierigen Schrank. Vom Fenster aus, das seit Ewigkeiten nicht mehr geputzt worden war, sah man die vergoldeten Kuppeln der Basilius-Kathedrale und die roten Mauern des Kreml.
»Einen Rubel pro Nacht, saubere Betttücher kosten extra. Bezahlung im Voraus.«
Lydia wich zurück. Das Zimmer mit den unbezogenen Betten, dem nackten Dielenfußboden und der feuchten Tapete, die sich überall von den Wänden löste, war alles andere als ›gemütlich‹. Unter dem schmutzigen Fenster lief Ungeziefer über den Boden.
»Danke. Wir nehmen die Betttücher.«
»Das Gemeinschaftsbadezimmer ist am Ende des Flurs. Denken Sie daran, dass die Ausgangssperre auf Befehl der Bolschewisten um zehn Uhr beginnt. Der Strom fällt regelmäßig aus. Besorgen Sie sich am besten Kerzen.«
Die Frau zeigte ihnen ein dreckiges Badezimmer und holte ein paar Betttücher. Andrew bezahlte, worauf sie hinausging.
»Nicht gerade wie zu Hause«, stellte Andrew fest. »Arme Leute dürfen eben nicht wählerisch sein. Ich sehe mir deinen Arm mal an.«
Lydia setzte sich aufs Bett. Andrew wickelte den Verband ab, nahm Jod, Alkohol und neues Verbandszeug aus seiner Tasche und machte sich an die Arbeit. »Du hast ganz schön was mitgemacht, nicht wahr? Zuerst die Schusswunde und jetzt das. Kein Leben für eine junge Frau!«
»Darf ich dir ein Geheimnis verraten? Als ich mich freiwillig für die republikanische Bewegung gemeldet habe, war ich zuerst mit ein paar anderen Frauen im Kurierdienst tätig. Wir haben Munition und Botschaften durch die britischen Linien geschmuggelt. Nie in meinem Leben hatte ich größere Angst, und der Tod war mein ständiger Begleiter. Aber weißt du, was seltsam war? Ich habe mich niemals lebendiger gefühlt und genoss jede einzelne Minute. An jedem Tag erlebte ich mehr als jemals zuvor in meinem Leben! Es war gefährlich und aufregend, aber für mich war es das Größte. Ich konnte nicht genug davon bekommen.«
»Wie eine Droge?«
»Ja. Manchmal, wenn ich in Gefahr geriet oder glaubte, dem Tod ins Auge zu sehen, hatte ich die sonderbarsten Gefühle. Es war so, als wollte ich den Arm ausstrecken und seine Hand nehmen. Das hört sich merkwürdig an, nicht wahr?«
Andrew schüttelte den Kopf und verknotete den Verband. »Ich erinnere mich an etwas, das mein Vater mal irgendwo gelesen hat: ›Diejenigen, die richtig leben, sehen immer der Gefahr ins Auge.‹«
»Standet ihr euch nahe?«
»Mehr als das. Er wurde in den ersten drei Monaten des Krieges einberufen, weil es an der Front einen Mangel an Ärzten gab. Dabei war er längt zu alt, um in den Krieg ziehen zu müssen. Er
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