Operation Romanow
Nina ließ es geschehen. Sie hatte das Bedürfnis, sich an irgendjemandem festhalten zu müssen. Doch als sie sich wieder gefangen hatte, wich sie von ihm ab und wischte sich die Tränen aus den Augen.
»Und weißt du, was ich noch erbärmlicher finde? Dein Hass auf Juri! Das hat mit Gerechtigkeit nichts zu tun, sondern nur mit Neid.«
»Wie meinst du das?«
Jetzt platzte alles aus ihr heraus, was sich in ihr aufgestaut hatte. »Du hast ihn dein ganzes Leben lang um alles beneidet, aber es niemals zugegeben! Du warst neidisch, weil er sich Respekt verdient hat, weil er ein ehrenwerter Mann war, zu dem andere aufschauten, und weil er so einen Vater hatte. Er hatte alles, wonach du dich gesehnt hast, und sogar die Frau, die du nicht haben konntest! Das ist die wahre Quelle deines Hasses, nicht wahr, Leonid? Ist es nicht so? Du hast ihn einen Bruder genannt und ihn tief in deinem Inneren immer verachtet!«
Jakow schwieg.
Nina starrte ihn an. »Nun weiß ich, was es war, was ich damals, als wir uns vor all den Jahren zum ersten Mal sahen, gespürt und erst jetzt verstanden habe. Du warst immer empört und verärgert, weil du das Gefühl hattest, ungerecht behandelt zu werden, und das größtenteils von Leuten wie Juri und Angehörigen seiner Klasse!«
»Du weißt nicht, was du da redest«, flüsterte Jakow, der erblasst war, in heiserem Ton.
»Ach nein? Du hast Juri die Schuld für alles gegeben, weil du ihn vernichten wolltest!«
»Du wirst mich niemals davon überzeugen, dass er unschuldig ist«, erwiderte Jakow verbittert.
»Ich werde dir etwas sagen«, stieß Nina in feindseligem Ton aus. »Juri hat Stanislaw genauso wenig getötet wie du!«
Aus den Augenwinkeln sah Jakow, dass draußen plötzlich hektisches Treiben herrschte. Seine Männer rannten die Gleise hinauf und hinunter, riefen sich gegenseitig Befehle zu und schwenkten ihre Sturmlampen. Jakow glaubte, das Pfeifen einer Lokomotive zu hören.
Doch er ließ sich davon nicht ablenken. »Du weißt doch gar nicht, wovon du sprichst«, entgegnete er mit festerer Stimme als zuvor. »Du warst nicht dabei! Woher willst du es wissen? Ein Mann auf der Flucht ist zu allem fähig.«
»Aber dazu nicht! Nicht dazu, einen Jungen kaltblütig zu ermorden. Soll ich dir sagen, warum? Weil in ihren Adern dasselbe Blut floss!«
»Was soll das heißen?«
»Als Juris Vater starb, saßen wir bis zu seinem Ende bei ihm am Bett. Juri und ich haben seine Beichte gehört, sein trauriges kleines Geheimnis. Wir mussten ihm beide versprechen, dass wir es niemals jemandem verraten würden. Vor allem dir nicht, weil es das ehrenvolle Andenken an deine Mutter verletzen könnte. Aber jetzt sage ich es dir. Ich weiß, er würde es verstehen. Denn jemand muss es dir sagen. Jemand muss dich zur Vernunft bringen!«
»Wovon, zum Teufel, sprichst du?«
»Es ist an der Zeit, dass du es erfährst, Leonid. Es ist Zeit, dass du die ganze Wahrheit erfährst!«
102. KAPITEL
Nowo-Tichwinski-Kloster/Amerika-Hotel, Jekaterinburg
Als Boyle an diesem Nachmittag vom Anbau aus die Klosterkirche betrat, stand die Novizin von einer der Bänke auf. Sie trug ein Kopftuch, und mit den dunklen Schatten unter den Augen sah sie unglaublich jung aus.
»Mir wurde gesagt, dass ich Sie hier treffe, Marija.«
»Schwester Agnes kann nicht persönlich kommen. Sie wird im Operationssaal des Krankenhauses gebraucht. Ich soll Ihnen etwas zeigen.«
»Sie sprechen ausgezeichnet Englisch.«
»Mein Vater ist Kaufmann. Ich hatte eine englische Gouvernante.« Die Schritte der Novizin hallten durch die Kapelle, als sie Boyle den Gang hinunter zum Eingang führte und ihm die Rückseite der Eichentür zeigte.
Boyle entdeckte das mit Kreide gemalte Zeichen der Bruderschaft. »Wie lange ist das schon da?«
»Nicht länger als eine Stunde. Die Schwester hat gesagt, wir müssen vorsichtig sein. Vielleicht ist es eine Falle. Und ich soll Ihnen das hier geben.«
Sie reichte ihm ein Stück Kreide. Boyle nahm es entgegen. In seinen Augen funkelte es verräterisch. »Danke. Sie können gehen. Ich kümmere mich um alles Weitere.«
Boyle wartete, bis die Schritte der Novizin verhallten. Dann malte er eine spiegelverkehrte Swastika neben die andere und setzte sich auf eine Kirchenbank. Eine Hand steckte er in die Jackentasche und umklammerte damit den Griff seiner Pistole.
Es dauerte nicht lange, bis er Schritte hörte.
Eine Person trat durch die Tür, dann folgte eine zweite. Durch die bunten Kirchenfenster drang helles
Weitere Kostenlose Bücher