Operation Romanow
Sonnenlicht. Im ersten Moment erkannte Boyle ihre Gesichter nicht.
Als einer von den beiden die geöffnete Tür ein Stück von der Wand zog, um das geheime Zeichen dahinter zu suchen, erkannte er Andrew und Lydia. Sie sahen furchtbar mitgenommen aus und trugen schäbige, rußgeschwärzte Kleidung.
Boyle stand auf und ging auf sie zu. »Endlich! Sie haben es geschafft.«
»Wir ersparen uns die Formalitäten, wenn es Ihnen nichts ausmacht, Boyle«, sagte Andrew. »Wir sind hier, und wir sind froh, dass wir leben.«
»Ist Ihnen niemand gefolgt?«
»Nein, ich bin ganz sicher.«
Boyle, dessen Hand noch immer auf seiner Waffe lag, warf einen Blick durch die Tür. Als er sich überzeugt hatte, dass die Luft rein war, entspannte er sich. »Ihrem Aussehen nach zu urteilen, müssen Sie durch die Hölle gegangen sein.«
»Sie können sich nicht vorstellen, was wir erlebt haben, Boyle«, sagte Lydia müde.
Er lächelte. »Geht etwas im Leben jemals glatt? Jetzt machen Sie sich erst einmal frisch, und dann erzählen Sie mir alles.«
Sorg kam langsam zu Bewusstsein. Das intensive Aroma von Ammoniak stieg ihm in die Nase.
Ihm war schrecklich übel, und von dem beißenden Geruch schmerzte seine Lunge. Fast noch schlimmer war, dass sich sein Kinn anfühlte, als hätte jemand mit einem Hammer darauf herumgeschlagen.
Kasan hatte ihm einen so kräftigen Schlag verpasst, dass er sofort ohnmächtig geworden war.
Sorg blinzelte und sah sich um. Über seinem Kopf brannte ein helles Licht. Der grelle Schein zwang ihn, seine Augen mit der Hand abzuschirmen. Er lag auf einem Metalltisch in einem kleinen, stickigen Raum. Die Fenster waren vergittert, und der Regen prasselte gegen die Glasscheibe.
Kasan entdeckte er nirgendwo. Stattdessen beugte sich ein kleiner, unrasierter Mann, der nach kaltem Zigarettenrauch stank, über ihn. Die Ellbogen seiner Jacke waren notdürftig geflickt. Er hielt ein braunes Fläschchen mit einer durchsichtigen Flüssigkeit darin in der Hand.
Sorg versuchte, sich aufzurichten, doch ihm wurde augenblicklich schwindelig. »Wo … wo bin ich?«
Der Mann legte eine Hand auf Sorgs Brust und drückte ihn behutsam zurück auf den Tisch. »Entspannen Sie sich. Atmen Sie tief und langsam ein und aus.«
103. KAPITEL
Nowo-Tichwinski-Kloster, Jekaterinburg
»Er wird im Amerika-Hotel gefangen gehalten.« Boyle markierte die Adresse mit einem Bleistift auf dem Stadtplan, der auf dem Tisch ausgebreitet war. »Dort hat die Tscheka ihr Hauptquartier eingerichtet. Die Schwester hier meint, es wäre verrückt, wenn wir das Wagnis eingingen, uns Zugang zu verschaffen. Aber uns rennt die Zeit davon. Wir sind in einer verzweifelten Lage. Die Tschechoslowakische Legion ist nicht mehr weit von Jekaterinburg entfernt, und die Stadt befindet sich in Aufruhr. Den Gerüchten nach haben die Roten vor, ihre Truppen in den nächsten Tagen zu verlegen.«
Sie saßen in Markows großer Leichenhalle mit den weißen Fliesen an den Wänden. Der stechende Geruch der Balsamierflüssigkeit hing in der Luft. In einer Ecke lagen mehrere in weiße Tücher gehüllte Leichname auf dem Boden. Insgesamt war es mindestens ein Dutzend toter Körper, und den Größen nach zu urteilen handelte es sich sowohl um Erwachsene als auch Jugendliche.
An dem Tisch saßen Boyle, Schwester Agnes und Markow sowie Andrew und Lydia, die sich gewaschen und frische Kleidung angezogen hatten.
»Ist das der Grund, warum Sie glauben, dass die Familie bald hingerichtet wird?«, fragte Andrew.
Boyle warf den Stift auf den Tisch. »Sagen Sie es ihm, Schwester«, forderte er die Nonne mit ernster Miene auf.
»Meine beiden Novizinnen wurden heute Morgen am Ipatjew-Haus abgewiesen. Sie wollten der Familie wie immer frische Milch, Brot, ein Dutzend Eier und ein paar Rollen Garn bringen.«
»Warum Garn?«
Die Nonne erklärte es ihnen. »Die Töchter des Zaren nähen Edelsteine in ihre Kleidung ein, die sie brauchen könnten, falls ihnen die Flucht gelingt. Der Kommandant hat den größten Teil ihres Schmucks beschlagnahmt. Er vermutet, dass sie noch mehr versteckt haben, und ist ganz versessen darauf, alle versteckten Wertsachen zu finden.«
»Fahren Sie fort, Schwester.«
»Als Marija und Antonina ankamen, nahm der Kommandant ihnen die Lebensmittel ab, erlaubte ihnen jedoch nicht, die Familie zu besuchen.«
»Ist das schon einmal vorgekommen?«
»Selten. Die Wachen sind immer froh, wenn die Novizinnen kommen, weil sie sich bei jedem Besuch einen Teil der
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