Operation Romanow
Lebensmittel unter den Nagel reißen. Darum bin ich persönlich hingegangen, um mehr zu erfahren. Der Kommandant weigerte sich, mit mir zu sprechen. Als ich wieder ging, spottete ein Wachmann: ›Bald werden wir keine Besuche mehr von Ihren Nonnen bekommen.‹«
»Ich habe gehört, dass der Kommandant für heute Nacht beim Zentrallager einen Lastwagen und große Segeltuchrollen angefordert hat«, sagte Markow. »Und eine große Menge Schwefelsäure von einer der Gießereien. So eine Säure kann benutzt werden, um Leichen aufzulösen. Vermutlich ist das der einzige Grund, warum die Roten sie angefordert haben.«
Schwester Agnes wich zurück und bekreuzigte sich. »Denen traue ich jede Grausamkeit zu.«
Boyle erhob sich und lief aufgeregt hin und her. »Die Tunnel können wir nicht mehr benutzen, denn sie werden alle stark bewacht. Ich bin für alle Vorschläge offen, auch was die Rettung unseres Mannes aus dem Hotel betrifft.«
Andrew zog den gefälschten Brief aus der Tasche. »Würde das helfen?«
Boyle las das Schreiben mit gerunzelter Stirn durch. »Wo haben Sie das her?«
Andrew erklärte ihm, dass er den Brief selbst geschrieben hatte.
»Einen Versuch ist es wert«, sagte Boyle. »Was meinen Sie dazu?«
Er reichte Schwester Agnes und Markow den Brief, die ihn aufmerksam lasen.
Der Leichenbestatter rieb sich den Bart. »Sieht jedenfalls offiziell aus.«
Die Nonne schüttelte den Kopf. »Einige bei der Tscheka mögen Bauern sein, aber sie sind nicht auf den Kopf gefallen. Ich glaube nicht, dass man sie so einfach hereinlegen kann.«
Lydia stand ebenfalls auf und ging auf die in weiße Tücher gehüllten Leichen zu. »Wer sind diese armen Teufel?«
»Einige sind eines natürlichen Todes gestorben, andere wurden hingerichtet. Das Holz für Särge wird knapp, und darum müssen wir sie in einfachen Tüchern begraben.«
»Sind sie schon lange tot?«, fragte Boyle.
»Die meisten seit heute Morgen.«
Gedankenverloren starrte Boyle auf die Leichen.
»Ich hasse es, Sie zu drängen, doch es ist höchste Eile geboten«, sagte Andrew ungeduldig.
Boyle trat ans Fenster und spähte auf den Hof, wo Markows Pferde standen. »Schwester, meinen Sie, Sie könnten eine Uniform der Rotarmisten für mich auftreiben?«
»Wir haben hier jede Menge Uniformen von den toten Soldaten.«
Der Gedanke, dass endlich Bewegung in die Sache kam, schien Boyle noch nervöser zu machen. »Wir gehen nach demselben Plan vor, den ich schon mit Markow besprochen habe, nur dass Andrew und ich gemeinsam in das Hotel eindringen. Andrew, Sie treten als Tscheka-Polizist auf. Und vergessen Sie den Brief nicht.«
Boyle wandte sich dem Leichenbestatter zu. »Haben Sie ein schnelleres Fortbewegungsmittel als Ihren Pferdewagen?«
»Das Kloster verfügt über einen motorisierten Krankenwagen«, warf Schwester Agnes ein, bevor Markow antworten konnte. »Die Roten haben ihn noch nicht beschlagnahmt, weil wir ihre Verwundeten immer von der Front abholen.«
»Ausgezeichnet.« Boyle zeigte auf den Stadtplan. »Ich möchte, dass Sie hier warten, eine Straße vom Hotel entfernt, sodass wir uns schnell zurückziehen können.«
»Und wenn der Trick mit dem Brief nicht funktioniert?«, fragte Lydia.
Boyle wies mit dem Kinn auf die Leichen. »Dann enden wir genauso wie diese armen Teufel. Aber das Glück ist mit den Tüchtigen! Vor drei Monaten habe ich mir mit einer List Zugang zu den Gewölbekellern des Kreml verschafft und die rumänischen Kronjuwelen entwendet. Anschließend bin ich hinausmarschiert, ohne dass ein Schuss abgegeben wurde. Ich hatte nur ein paar Männer und ein Schreiben bei mir, das wie ein offizielles Dokument aussah. Wie heißt es so schön? Es hängt alles vom richtigen Auftritt ab! Es wird Zeit, das Terrain zu erkunden. Los geht’s.«
Als sie den Raum verließen, ergriff Boyle Andrews Arm. »Da Jakow Ihre Familie als Geiseln genommen hat, ändert sich alles. Das verstehen Sie doch, nicht wahr? Es tut mir leid, aber jetzt kann ich meinen Teil unserer Abmachung nicht mehr einhalten und Nina und Sergej nicht mehr aus dem Land herausbringen. Wir wissen nicht, welchen Trumpf Jakow noch im Ärmel hat.«
Andrew nickte mit finsterer Miene. »In Ordnung. Aber versprechen Sie mir eines: Wenn er auftaucht, gehört er mir.«
104. KAPITEL
Hauptbahnhof/Amerika-Hotel, Jekaterinburg
Der Zug fuhr um fünf Minuten nach sechs Uhr abends gegen die Prellböcke, und die Druckluftbremsen zischten.
Jakow schob ein Fenster auf. Auf den Bahnsteigen
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